Zum Tod von Jean-Luc Godard

Godards Fragment

Die Generalprobe für Fidelio von Ludwig van Beethoven in der Oper Paris war angesetzt auf einen Termin, von dem bei der Planung niemand gewußt hatte, daß er drei Tage, wie sich später erwies, vor Einmarsch der Deutschen in Paris liegen würde. Die Korrepetitoren übten, Handwerker und Bühnenmeister präparierten die Kulissen. Die Leitung der Oper hatte sich für die Aufführung entschieden, trotz des Krieges gegen Deutschland, denn Ludwig van Beethoven war Österreicher (wenn nicht Weltbürger); sein Werk war, nach Auffassung der Intendanz, auch durch den Anschluß der Ostmark an das Deutsche Reich in seiner staatsrechtlichen Zurechnung unverändert geblieben.

Dann waren durch Anordnung des Ministeriums Oper und Theater von Paris geschlossen, die Belegschaften und wesentlichen Dekorationen zum Abtransport nach Bordeaux bereitgemacht worden. Die Oper, das Palais Garnier, wurde verschlossen. In der Vielzahl der Probenräume dieses antiken Gebäudes waren jedoch in der Nähe des Sees unter der Oper, weit unterhalb der Bühne, Probenräume unbenachrichtigt geblieben, in denen die zweite Besetzung des Fidelio probte. Sie bemerkte den Abzug des Hauptkörpers der Oper überhaupt nicht. Sie fand sich am folgenden Tag, nachdem sie den 2. Akt endgeprobt hatte, vor verschlossenen Türen. Sie konnte nicht hinauf zum Erdboden, zum Licht, sie war eingesperrt. Der Inspizient dieser Gruppe, ein verantwortungsbewußter Sergeant, der hier an der Oper sein Gnadenbrot aß, noch übrig von Verdun, faßte die Lebensmittel und die zeitliche Perspektive, das Wasser aus einem der Brunnen in den Tiefen der Oper zu gewinnen, gedanklich zusammen. Er hielt es für möglich, hier zehn Tage auszuharren. Er organisierte eine Gruppe, die mit Klöppeln (aus Schaufeln, die ursprünglich die Heizung der Oper bedienten) Signale nach oben ausbrachte. Für die Truppe selbst hielt er es für richtig, den 3. Akt zu proben. Es geht um den Ausbruch der Freiheit: Ein Minister gelangt mit schnellen Gespannen zu den Toren des Gefängnisses. Ein Mord des Gouverneurs dieses Gefängnisses an einem der Strafgefangenen, den er als seinen Feind betrachtet, mißlingt im letzten Augenblick. Die bleichen Genossen, Verbrecher und Freiheitskämpfer vereint, treten hervor ans Licht der Weltgeschichte. Das will Ton für Ton geprobt sein, es ist ein Augenblick voller Unwahrscheinlichkeit, ein großer Augenblick der Musik.

Durch die Proben waren die im Grunde bereits Verlorenen, im Untersockel der Oper, so beschäftigt, daß sie das Verzweifelte ihrer Situation nicht wahrnahmen. Die Kontingente an Brot und Wasser entsprachen kärglich denen eines spanischen Gefängnisses in der Ist-Zeit der Oper.
Keine Revolte, nicht einmal Ungeduld. Vom Führerbesuch droben bemerkte die verlorene Mannschaft nichts. Am Dienstag, dem 25. Juni, immer noch hitzige Sonne über Paris, die Lokale am Boulevard Saint-Germain überfüllt, schon gemischt mit andächtigen Deutschen. Jetzt waren Mitarbeiter der Oper, die nicht nach Bordeaux ausgewichen waren, zurückgekehrt. Ein Bühnenarbeiter hörte die konsequent klopfenden Schaufelhiebe der Kolonne. ES WAREN SIEBEN SCHLÜSSEL ERFORDERLICH, UM DIE PROBENGRUPPE ZU ERLÖSEN. Kein schriftkundiger Zeuge hielt fest, wie die Verlorenen, die Robinsonisten der Niederlage Frankreichs, aus ihrem Untergrund hervortraten.

Von dieser Geschichte erfuhr Jean-Luc Godard 1968. Er ist für Überraschungen gut. Zugleich befand er sich unter Einfluß. DieWertabstraktion des revolutionären Prozesses in Paris im Mai 1968 betäubte sein Gehirn. Gleichwohl läßt sich ein Jean-Luc Godard, wenn selbst das Gehirn zum großen Teil aussetzt, immer noch nicht beeinflussen. Bei den Dinosauriern bleibt das Beckengehirn intakt, wenn das Gehirn-Gehirn aussetzt. So gibt es in Unikaten der Zivilisation in jeder Einzelzelle ein Wechselgehirn, das im Falle der Besetzung des Großhirns immer noch so funktioniert, wie Godards Gehirn funktionieren würde, wenn es nicht besetzt wäre. Insofern ist Jean-Luc Godard der absolute Gegenpol zur Besetzung von Paris im Jahre 1940. Er hat deshalb das Filmprojekt MOMENT DER BEFREIUNG DES FREIHEITSCHORS AUS FIDELIO AUS DEN KATAKOMBEN DER OPER VON PARIS zwar 1968 nicht verfilmt, es aber mit seinem Bleistift, ziemlich unleserlich, skizziert. Seine Frau verließ ihn. Die neue interessierte sich für Legitimationsprofite, nicht für Skizzen des Genies. Godard aber, gründlich, Protestant aus Genf, beharrte 1977 auf den Notizen. Sein Filmfragment nach diesen Skizzen, eines der besten Werke, die er schuf, beschreibt insgesamt 884 Sekunden (35mm, s/w, 14,7 Minuten, prämiert in Seoul, Korea, mit dem ersten Preis der Metropolen, projiziert in 50 x 70 m an einem Hochhaus), das HERAUSTRETEN DER ZWEITEN BESETZUNG DES FIDELIO ANS LICHT IN FRANKREICHS DUNKLER ZEIT.

Der Leiter der Truppe, der Sergeant, hatte seinen verlorenen Haufen aufgefordert, bei Verlassen des Palais Garnier den Freiheits-Chor anzustimmen. Die das sahen, liefen später auseinander, ohne ihre Adressen als Zeitzeugen zu hinterlassen. Die Geschehnisse waren so überraschend, daß kein Aufnahmeteam der Deutschen Wochenschau bereitstand.


Die Götterdämmerung in Wien

(für Heiner Müller)

„Die Art, wie das 20. Jahrhundert sich Musik aneignet.“
Gerard Schlesinger, Cahiers du Cinéma

„Was nicht gebrochen wird, kann nicht gerettet werden.“
H. Müller, Grausame Schönheit einer Opernaufzeichnung

Im März 1945 war die Metropole Wien von sowjetischen Stoßtruppen umstellt. Nur nach Norden und Nordwesten bestand noch Landverbindung zum Reich. In diesem Moment befahl der Gauleiter und Reichsverteidigungs-Kommissar Baldur von Schirach, Herrscher der Stadt, eine letzte Festaufführung der „Götterdämmerung“. In aussichtsloser Lage der Stadt und des Reiches sollte die von Richard Wagner komponierte Verzweiflung der Nibelungen (aber auch die in den Schlußakkorden enthaltene Hoffnung auf Wiederkehr) über alle Sender des Südostens übertragen werden, sofern diese in deutscher Hand waren. „Wenn schon das Reich untergeht, muß uns die Musik doch bleiben.“ Die seit Oktober stillgelegte und allseits verriegelte Oper wurde wieder aufgeschlossen. Orchestermitglieder wurden von den Fronten in die Gauhauptstadt geschafft. Am Vorabend der Hauptprobe I (mit Orchester und Kostümen, aber ohne Brand Walhalls im Dritten Akt, die Generalprobe sollte dann vom Rundfunk aufgenommen und übertragen werden, auf eine Premiere wurde verzichtet) flogen US-Geschwader von Italien nach Wien und bombardierten das Zentrum. DIE OPER BRANNTE AUS.

Nunmehr übte das Orchester in Gruppen, aufgeteilt auf verschiedene Luftschutzkeller der Stadt. Die linke Orchesterseite arbeitete in fünf Gruppen in Kellern der Ringstraße; die rechte Orchesterseite einschließlich Pauken in vier Kellern der Kärntner Straße sowie in Nebenstraßen. Die Sänger waren auf die Orchestergruppen verteilt. Sie sollten versuchen, „wie Instrumente“ zu singen. Zuzuordnen waren sie einander nicht, da sie ja in verschiedenen Kellern sangen. Der musikalische Leiter saß, zunächst anschlußlos, im Weinkeller einer Gastwirtschaft, war jedoch bald mit sämtlichen Kellern durch FELDTELEFONE verbunden.

► Ein rätselhafter Film über Einsamkeit und die deutsche Wende


Artillerieeinschläge im Umfeld. Während der Proben fanden zwei Tagesangriffe der US-Luftstreitkräfte statt. Eigene schwere Artillerie war in der Nähe eingegraben und schoß sich auf sowjetische Fernkampfgeschütze ein. Infanteristen und Eisenbahner waren als Läufer den probenden Musikteilen beigestellt. Die so überbrachten Nachrichten wurden ergänzt durch Feldtelefone, die nicht nur den Dirigenten mit den Orchesterteilen, sondern auch diese untereinander verknüpften. Das über Standleitung hergestellte Klangbild der Übungsnachbarn wurde über Lautsprecher jeweils verstärkt. Im groben Umriß konnten so die Musiker die Klänge der von ihnen getrennt spielenden Klangkörper registrieren, während sie selbst die Teile der Partitur probten, für die sie zuständig waren. Später ging der musikalische Leiter dazu über, von Keller zu Keller zu eilen und Instruktionen vor Ort zu geben. ES SIND VÖLLIG ANDERE RÜCKSICHTEN ZU NEHMEN, SAGTE ER, ALS BEI EINER HAUPTPROBE UNTER ANWESENDEN.

Es ergab sich auch ein anderes Klangbild. Die Geräusche des Endkampfes um Wien waren nicht auszufiltern, die Orchesterfragmente ergaben keinen einheitlichen Klang. Da die Wiener Brücken bedroht waren, gab der befehlsführende Generaloberst Rendulic an den Stab des Reichsverteidigungskommissars eine Warnung durch. Der Abtransport der Sänger und Orchestermitglieder in den Westen Österreichs müsse vorgezogen werden, wenn man sie retten wolle. Man könne deshalb nicht auf die Hauptprobe I warten, sondern müsse improvisieren. Daraufhin befahl der Reichsverteidigungskommissar, ein noch junger Mann, daß die Rundfunkaufnahmen des bis dahin erarbeiteten Klangbildes sofort, d. h. noch am gleichen Tag, durchzuführen seien. Die funktechnische Aufnahme der „Fragmente“ der „Götterdämmerung“ begann deshalb um 11.30 Uhr mit der ersten Szene des Dritten Aufzugs (Siegfried und die Rheintöchter).
Es wurde bis zum Schluß der Dritten Szene des Dritten Aufzugs durchgespielt. Anschließend sollten die Aufzüge 1 und 2 des Musikdramas nachgezogen werden. Beabsichtigt war die Zusammenstückelung im Rundfunkhaus oder aber, nachdem die Originalbänder aus Wien herausgeflogen wären, die Zusammenfügung und geschlossene Übertragung des Werkes vom Reichssender Salzburg aus.

Es waren aber DURCH ZUFALL noch dreitausend Meter 35-mm-Agfafilm-Farbmaterial in der Stadt Wien gelagert. Oberstleutnant i.G. Gerd Jänicke, der die ihm unterstehenden vier Propaganda-Kompanien in den belagerten Raum Wien zusammengezogen hatte, ging von der festen Absicht aus, das Unglück dieser Stadt zu filmen. Jetzt konkretisierte er seinen Entschluß. Er befahl, die Orchesterleistung in Bild und Ton festzuhalten, und zwar ohne Rücksicht auf das Kamerageräusch, da ein Blimp nicht zur Verfügung stand. Jänicke schien die Aufnahme des letzten Aufzugs der „Götterdämmerung“ ein krönender Abschluß einer seit sieben Jahren andauernden hingebungsvollen Chronisten- und Propagandatätigkeit. Es gab nichts zu beschönigen, ein Durchhaltevermögen war zu dokumentieren, das das festhielte, was mit dem Deutschen Reich nicht zugrunde gehen würde: die deutsche Musik.
Mit fünf Kameras und jeweils verbundener Tonapparatur wurden der Dritte Akt und Teile des Ersten Akts aufgezeichnet. Als Lampen wurden Flakscheinwerfer aufgestellt: sie strahlten an die Kellerwand und gaben ein grelles, indirektes Licht. Für den vollständigen Eindruck waren robuste Improvisationen erforderlich: so wurden die von den Aufzeichnungsgruppen nicht erfaßten Sänger und Orchesterteile anderer Keller über Funksprechgerät in die Aufführung übertragen und auf 17,5-Perfo-Bändern gespeichert; sie wurden später in die Mischung eingespielt. Nachdem man sich beim Dritten Aufzug/Erste Szene noch um einen Gesamtklang bemüht hatte, ging man bei den Szenen 2 und 3 des Dritten Aufzugs dazu über, die Fragmente den Zuhörern hintereinander vorzustellen. Man hörte und sah diese Szenen in der Aufzeichnung neunmal hintereinander: Jedesmal ging es um die lärmende Teilgruppe der Partitur, die in dem betreffenden Keller geübt wurde.

► „Ganz wie in der Liebe: keine Erklärungen“


Die zivile Leitung des Rundfunks Salzburg legte die institutionelle Feigheit an den Tag, wie sie für Rundfunkanstalten typisch ist. Sie hielt die aus mehreren ungleichen Teilen zusammengebaute Tonaufnahme der „Götterdämmerung“, deren Eingang sie quittiert hatte, aus „qualitativen Gründen“ nicht für sendefähig. Sie war durch Telefonate mit dem Stab des Reichsverteidigungskommissars in ihrem Urteil nicht umzustimmen. Als kommt es in dieser Lage des Reiches auf irgendeine friedensmäßige Aufzeichnungsqualität an!, sagte der für die Operation zuständige Offizier im Stab von Schirachs, Hauptmann von Tuscheck. Doch die zivile Sendeleitung in Salzburg blieb unerschütterlich. Sie sendete eine Konserve des Dritten Aufzugs der „Götterdämmerung“ und anschließend, bis zur Übergabe von Salzburg, nur noch Märsche.

Die Propagandatrupps des Oberstleutnant Jänicke dagegen sicherten die unentwickelten Negative und Tonmaterialien in einer Garage der Wiener Hofburg. Beabsichtigt war die Verfrachtung nach Oslo oder Narvik mit einer der letzten Maschinen, die aus Wien abflogen. Im Norden gab es ein Kopierwerk. Die Aufzeichnung sollte dem Feind entzogen werden und eine letzte Botschaft des kämpfenden Reichs darstellen. Im Gegensatz zu 1918 wurden in diesem Krieg die Körper, die Panzer, die Städte zersprengt, der Geist dagegen blieb unverletzt. Theoretisch, sagte Jänicke, ist der Endsieg auch bei Zerschlagung aller Wehrmittel, allein durch den Willen und geistige Waffen möglich. Vor allem gilt das für die Mittel der Musik.
Die Verfrachtung der „Götterdämmerungs“-Aufzeichnung gelang nicht mehr, weil keine Kraftfahrzeuge für den Transport zum Flughafen zur Verfügung standen.
Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Aus ihren Kellern stiegen die Musiker ins Freie. Infanterie-Unteroffiziere führten sie durch die unter ungezieltem Feuer liegende Innenstadt. Sie erreichten die Busse und wurden (als letzte aus dem sich schließenden Kessel) aus Wien herausgefahren. Der Morgen grüßte sie in ländlicher Umgebung. Sie wurden auf Bauernhöfe in der Nähe von Linz verteilt und sahen sich wenige Tage später von amerikanischen Truppen arrestiert.

Die Filmbüchsen in der Garage, noch ordnungsgemäß beschriftet, wurden von sowjetischen Offizieren sichergestellt und vergessen. Ein georgischer Oberst, der Französisch sprach, übergab den Stapel einem tartarischen Oberstleutnant, der die deutsche Schrift lesen konnte (was er freilich nur zuverlässigen Freunden verriet, nicht dem georgischen Kollegen). Der Oberstleutnant ließ das unbelichtete Filmmaterial in seine Garnisonsstadt Sotschi bringen, wo es jahrzehntelang im Keller des städtischen Museums aufbewahrt wurde.
1991, nach dem Zusammenbruch des Imperiums, entdeckte ein junger Komponist, der sich als Beauftragter Luigi Nonos für Rußland bezeichnete, diesen Bestand. Er folgte einem Hinweis in einem Musikfachblatt der Krim, das im Internet als Einzelseite angewählt werden kann. Ohne jemals etwas von dem Material selber gesehen zu haben oder auch nur den Ort zu kennen, an dem es lagerte, organisierte der junge Mann den Transport zu einem Filmstudio in Ungarn, wo er das Material entwickeln ließ. Die Positive wurden nach Venedig gebracht. Absicht war, die Tonspur im 10. Jahr nach Luigi Nonos Tod im Dom von Venedig vorzuführen.
Eine Cutter-Assistentin J. L. Godards, die von diesem Transfer gehört hatte, beharrte jedoch darauf, die Materialien in Paris in den Labors der Cinétype-Studios anlegen zu dürfen, und führte einer Gruppe von Mitarbeitern der Cahiers du Cinéma und der Cinémathèque die dreitausend Meter Film in Ton und Bild vor.

Die Wirkung des Materials war (nach fünfzig Jahren Lagerung) „verzaubernd“ („enchantant“), schreibt Gerard Schlesinger in den Cahiers du Cinéma.
Das 35-mm-Filmmaterial ist durch Selbstbelichtung zunächst in Umrissen und in Fehlfarbe entwickelt und durch die anschließende Entwicklung der unbelichteten Negative im Kopierwerk nochmals entwickelt worden, so daß sich über die Umrisse und Fehlfarben Schatten und Echos gelegt haben. Teile des Materials sind verschrammt und erhalten durch die Beschädigung eine den Thesen Walter Benjamins entgegengesetzten einmaligen Charakter. Die Tonspur zeige, schreibt Schlesinger, eine „grausame Schönheit“ oder „so etwas wie Charakterstärke“. Man sollte Richard Wagner immer in dieser Weise „fragmentieren“. Eine authentische Lärmspur zeichnet das technische Kamerageräusch und die Artillerie- und Bombeneinschläge auf. Dieser Originalton, das „In-Mitten-Sein“, rhythmisiere die Musik Wagners und mache sie von einer Phrase des 19. Jahrhunderts zum EIGENTUM des 20. Jahrhunderts.
In einigen Bildern sind die Kamera und das Stativ sowie die Tonapparaturen im Bild zu erkennen. Die „Einsprüche der Souffleuse haben die helle Klangfarbe des Ufa-Tonfilms. Die Stimmhöhen in den Tonfilmen jener Zeit scheinen also nicht nur auf Sprecherziehung der Darsteller, sondern auf Regeln der Tonaufnahme zu beruhen.“

Ein Fehler wäre es, meint Schlesinger, die Tonfragmente zu mischen. Es entsteht dadurch – anders als bei der Originalaufzeichnung – ein SCHLECHTER GESAMTKLANG. Die Mischung der Tonteile dokumentierte nur die damalige Absicht der Aufzeichnenden, nicht dagegen das, was sie getan haben: Es gehe, schreibt Schlesinger, um einen genialen Fund, nämlich die SCHÖNHEIT DER FRAGMENTE.

► „Die Maus und andere Geschichten“


Aufgrund der Intervention der Cahiers du Cinéma werden die dreitausend Meter Film und die überzähligen Tonfragmente deshalb in insgesamt 102 getrennten Stücken vorgeführt. Jedem Bildteil ist jeweils nur eine Tonspur zugeordnet. Wo Bilder fehlen, ist im Kino Konzert ohne Bild zu hören. Der Beauftragte Nonos nahm das Werk auf Anregung der Cahiers du Cinéma in dessen Werkverzeichnis auf. Nicht, was ein individueller Kopf sich an Partituren ausdenkt, ist ein gelungenes Werk, sondern das, was er an Schätzen der Musik findet und bewahrt. Ja, es ist eine Kunst, einen solchen Schatz zu beschaffen. Ich hätte mir eine Telefonkastenstimme, sagt der Beauftragte Nonos, nicht ausdenken können, noch dazu eine, die eine solche Ausdruckskraft besitzt. Es handelt sich um ein Bild-Ton-Werk des 20. Jahrhunderts, das einzigartig ist. „Eigentum ist das Glück, im Menschenleben einmal einen solchen Schatz zu finden.“

Bildbeschreibung:

Sie saßen im Hintergrund des Vorführraums im Kopierwerk der Firma Cinétype Paris. Sie sollten gemeinschaftlich die angelegten Muster (Ton und Bild kombiniert) protokollieren. Es ging um Qualitätskontrolle.

– Man sieht überstrahlende Glühlampen an der Kellerdecke und ebenfalls überstrahlende Taschenlampen auf den Notenpulten.
– Außerdem leuchten die Wände.
– Ja. Die Taschenlampen werden von Zeit zu Zeit ausgewechselt.
– Wenn die Batterie gewechselt werden muß. Es ist zu sehen, daß einige der Lampen bereits schwächer leuchten.
– Die Gesichter liegen im Schatten.
– Ja, aber die heftige Bewegung der Musiker bewegt die Schatten, so daß etwas „Geistiges“ den Raum bewegt hält, die Ahnung von „fleißigen Gestalten“.
– Staubfahnen, die an den Lampen vorbei niederwehen. Das sind Treffer von Artilleriegeschossen.
– Oder Bombentreffer.
– Ja.
– Die Instrumente müssen von Staub befreit werden. Häufiger als bei Proben in der Oper. Sehen Sie hier: Die Blechbläser-Gruppe, wie sie pausiert und die Instrumente putzt. Es haben sich Staub und Spucke vermischt.
– Jetzt muß diese Gruppe auf Takt 486 springen?
– Genau. So ist sie jetzt wieder synchron mit den Streichern und der einzelnen Sängerin, die wir, lautsprecherverstärkt, über das Sprechfunkgerät aus dem Nachbarkeller hören.
– Würden Sie sagen, daß das „krächzend“ klingt?
– Wie ein Wehrmachts-Nachrichten-Gerät eben klingt. Auch die Artillerie, hören Sie, klingt in der Übertragung blechern, d. h., tonqualitativ ist es ein Fehler.
– Hier geraten jetzt drei von sieben Orchesterteilen auseinander.
– Ganz ähnlich wie in den Kirchen des Hochmittelalters. Die Töne wandern im Raum. Es gibt keinen „Gleichklang“.
– Nun kann man beim besten Willen nicht sagen, daß die Funksprechgeräte, und hier sehen Sie nur eine Telefonverbindungmit direkt durch Draht angeschlossenen Lautsprechern, einen qualifizierten Raum erzeugen. Es handelt sich eher um einen Anti-Dom.
– Aber die Vorstellung des Raums funktioniert um so besser.
– Wieso besser?
– Denken Sie an die reale Situation. In jedem Moment kann einer der anderen Musikerkeller (oder auch der eigene) getroffen sein und einstürzen. Dann hören Sie nur noch das Geräusch der Katastrophe. Die tatsächliche Lage bestimmt die Vorstellung.
– Es ist nicht der Klang eines Raums, sonders eines Käfigs?
– Natürlich: das Gruppengeräusch vieler Räume. Eine Art Lebensraum, und endlich einmal ist die Musik in den wirklichen Verhältnissen angekommen. Das gelingt ja nicht dadurch, daß ein Symphonieorchester sich in einer Fabrik aufstellt und so tut, als sei das ein Ort für Symphoniekonzerte. Die Fabrik wird unwirklich gemacht, und das ist keine Methode, die Musik wirklich zu machen. Hier aber, in der Notlage des Wiener Kessels, entsteht ein neuartiger Klangraum von realer Musik: die Wiedererstehung der Musik aus dem Geiste der Zeitgeschichte. Die Räume sind die Nachricht. Ich stelle mir in dem Geratter von Musiktönen den Sternenhimmel vor. Etwas Reines, Klares.
– Und Sie meinen, das schwebte Richard Wagner vor?
– Ich gehe davon aus.
– Er gehört aber nicht zum 20. Jahrhundert.
– Ein zeitloses Genie ist gewohnt, sich alles musikalisch Wertvolle anzueignen. Hören Sie hier? Das ist die Blechgruppe 4 mit einer Pauke und drei Celli von der rechten Orchesterseite. Das klingt unmittelbar wie Giacomo Meyerbeer, „Die Jüdin“, Fünfter Akt, Erste Szene. Wagner hat es daher, und er kommt hier wieder in den rechten Raum: zu Meyerbeer zurück. Musik läßt sich nicht enteignen.
– Es klingt „interessant“.
– „Hinreißend“. Der richtige Ausdruck.
– Hier ist es dunkel.
– Ja, eine Serie von Naheinschlägen hat die elektrischen Kabel zerstört. Ein Teil der Taschenlampen liegt am Boden. Sehen Sie, Infanteristen rennen die Kellertreppe nach oben, die elektrischen Anschlüsse zu reparieren. Etwas sieht man ja mit Hilfe der Taschenlampen, die jetzt wieder an den Pulten befestigt werden. Und da Kerzenlicht, ein Leuchter mit zwölf Kerzen als allgemeines Licht. Nutzlos für das Lesen der Noten am Einzelpult, aber tröstend für den Gesamtraum. Da kommt der Dirigent herein. Er gibt dem ersten Geiger und den zwei Sängern flüsternd Anweisungen. Er hat einen Korb bei sich mit zwölf neuen Taschenlampen und Proviant.
– Die übrigen Keller wissen nichts vom momentanen Ausfall dieser Musikergruppe?
– Doch. Es wird ihnen zugefunkt. Dort links sehen Sie einen Wehrmachtsfunker. Es sind auch Souffleusen auf die Keller verteilt. Diese hier hat einen ungarischen Akzent und ist von der Operette ausgeborgt.
– Hätte man statt der „Götterdämmerung“ nicht besser „Rheingold“ spielen sollen? Es wäre ein hoffnungsfroher Anfang gewesen. Von der propagandistischen Wirkung her besser als ein Untergangsdrama.
– Die in Wien neigten nicht mehr zur Übertreibung und konnten auch nicht mehr lügen. Die das organisierten, waren verzweifelt und voller Trauer.
– Ein unbewußtes Kunstwerk mit Wahrheitsanspruch?
– Insofern, als alle Absichten fehlschlugen und etwas anderes entstand, was kein einzelner wollte. Nie war daran gedacht, daß Luftschutzkeller Kunstwerkstätten werden.
– Kaum zu glauben.
– Eine Fundsache. Die Hauptleistung bestand darin, diesen Fund in den Kellern des Museums in Sotschi zu machen.
– Ob es noch viele solche Fundsachen auf der Welt gibt?
– Viele. Sie müssen davon ausgehen, daß seit sechstausend Jahren immer irgendwo etwas versteckt liegt oder vergessen wurde.