Gorbatschow – Die Macht liegt im Verputz versteckt

Das Zimmer mit den leinenverhüllten Sesseln Lenins gab es im Kreml noch, zwei Gebäude von Gorbatschow entfernt. Auch die Telefonzentrale links, mit altertümlichem Gerät aus den zwanziger Jahren, war konserviert. „Entschlußkraft“ konnte Gorbatschow von Viertelstunde zu Viertelstunde in sich erzeugen und in die Auseinandersetzung werfen. Es liegt aber etwas in dem System von Telefon, Zentralheizung, elektrischer Versorgung, Finanzaufkommen und Personenschutz, das von Anfang an auf die Isolierung eines obersten Chefs programmiert ist. Es war unmöglich, einer „Macht gemeinschaftlicher Einbildung“ zu widerstehen, wenn diese Einbildung vom „Ende der UdSSR“ überzeugt war. Die Macht lag nicht auf der Straße, sie war in Form von Versorgungsleitungen und personalen Netzen in den Mauern von Moskau versteckt und verbaut. Man wird diese in den Wänden, Röhren und Leitungen versteckten Machtlinien mit einem Stab von vielleicht 16 Getreuen, die nie etwas Praktisches gelernt haben, außer Sitzungen vorzubereiten, nicht finden. Man müßte den Putz abschlagen, die Röhren und Schächte, in denen die Kabel und Verbindungsstücke stecken, zu ihren Endpunkten verfolgen. Dies, dachte Gorbatschow, war die tatsächliche Aufgabe, und sie wäre (als kompletter Abriß und Neubau z. B. des Kremls und des ganzen Landes) vor drei Jahren noch ausführbar gewesen durch eine „PARTEI DER GESELLSCHAFTLICHEN BAUARBEITER“. Wie man eine Revolution inszeniert, wie man einen Aufstand ausrüstet oder einen Putsch, das müssen die Kader lernen, die in die Dritte Welt geschickt werden. Hier, im Zentrum des Imperiums, ist eine ganz andere Perspektive zwingend: Wie baut man die gesellschaftliche Architektur um? Die Architektur der Befehlsnetze, und zweitens – das war Gorbatschows Steckenpferd –, wie baut man Netze mit Rückantwort? Er war müde. Er wollte ausgerechnet jetzt, in einer Dämmerstunde des Wintertages vor Silvester, in der er und alle anderen auf das Ende der Krise warteten, DISKUTIEREN. Aus dem Fenster sah er festgefügte Mauern, Tannen und Matsch, von vielen Füßen zertretenen Schnee.

Es war keineswegs so, daß ihm der Gegner die Verbindung zum Fernheizwerk kappte oder, wie angedroht, das elektrische Licht abstellte. Bis zuletzt verfügte er über eine Glühbirne. Um jemanden zu entmachten, genügte es nicht, die zusammengeschmolzene Arbeitsgruppe vom Finanzzentrum abzuschneiden und die Wachtruppe zur Neutralität zu vergattern.
Die grobe Arbeit, das Ende der Sowjetunion ordentlich abzuwickeln und die Übereinkünfte zwischen Militär und der Regierung Rußlands zu moderieren, lag bei den amerikanischen Besuchern. Der Secretary of State moderierte den Untergang des Gemeinwesens wie ein Notar.
Durch welche Einzelschritte die Entmachtung Gorbatschows wirksam wurde, darüber entstand später Streit. Der Pakt der „Buschräuber von Minsk“, die Weißrußland, die Ukraine und die Russische Republik von der Sowjetunion abkoppelten, entmachtete den Präsidenten der UdSSR nicht automatisch. Der Präsident des Volkskongresses Nursultan Nasarbajew suchte Gorbatschow auf, bestätigte ihm eine Reihe verfassungsgemäßer Einflußmöglichkeiten auf das Geschehen.
Wenn das Umfeld es will, ist der Kreml ein Gefängnis. Ganz Moskau ist Gefangener des Landes ringsum, wenn es nicht gelingt, durch einen abstrakten Schritt (Flugzeug, Telekommunikation, Sowjetverfassung, Arbeitswelt), durch Überspringen der konkreten Weiten und ihrer Bevölkerung Anschluß an „die Welt“ zu halten. Gleich, ob diese Welt aus Ämtern, Vorstellungen oder aus einer tatsächlichen Flugmöglichkeit besteht. Es muß einen Weg geben zu den Seestädten der Welt.

– Ist es wahr, daß Gorbatschow, tödlich ermüdet, eigentlich hat er seit August nicht mehr zu seinem persönlichen Tempo gefunden, unaufhörlich telefonierte, bis er einen Gehörsturz erlitt?
– Ja, auf dem Telefon-Ohr.
– Er wechselte den Hörer nicht zum anderen Ohr?
– Nein, immer das rechte Ohr. Eine Angewohnheit.
– Und auf dem Ohr hörte er nicht mehr?
– Er war fertig.
– Insgesamt fertig? Nervenzusammenbruch?
– Nur taub auf einem Ohr. Er behauptete, ein dauerhaftes Zischen zu hören.
– Waren Ärzte da?
– Nein. Waren nicht zum Dienst erschienen. Wir haben mit Hausmitteln ausgeholfen. Aspirin, hinlegen. Die Belagerer durften von der Schwäche des Präsidenten nichts erfahren.
– Als er sich erholt hatte, was tat er?
– Er wollte das Ganze retten. Das Imperium bewahren. Aber er wollte keinen Einsatz von Truppen.
– Wären ihm denn Truppen gefolgt?
– Irgendwelche immer. Er war der Präsident. Die asiatischen Republiken hatten viel Militär, das von den „Belagerern“ in Rußland nicht zu kontrollieren war. Man könnte eine motorisierte Division einfliegen lassen, Fallschirmjäger usf. Das wollte er partout nicht. Er weigerte sich, damit auch nur zu drohen.
– Setzte er jetzt sein linkes Ohr ein?
– Nachdem er sich kurz erholt hatte: ja. Er aß auch etwas. Das hatte er ganz vergessen.
– Warum telefonierte er so viel?
– Er suchte nach den Fäden. Er suchte, ohne Telefonzentrale, nach dem Mittelbau, den er ja unmittelbar hätte kommandieren dürfen, mit dem er aber in den letzten Jahren nur indirekt zu tun hatte. Er redete wie in einem Labyrinth.
– Es war ja nur eine schmale oberste Führungsschicht abtrünnig geworden?
– Ja. Auf Bezirksebene alles intakt. Ein Duell am Telefon.
– Zwölf Tage lang.
– Hätte er gewußt, wie die Kommunikationslinien laufen, hätte er die Machtlage noch ändern können. Die Vollmacht hatte er. Er hätte mit den Richtern sprechen müssen. In der Reihenfolge, in der sie Vertrauen bilden und in der sie selber rückfragen würden. Das hätte einer für ihn recherchieren müssen. Wir taten, was wir konnten. Im alten Apparat, der bis Juli 1991 bestand, hätten wir Bescheid gewußt. Jetzt wußten wir nicht mehr Bescheid.
– Also wußten die Belagerer, die russische Regierung, besser Bescheid?
– Sie wußten keineswegs besser Bescheid. Sie kamen nur mit weniger Kontakten aus. Es genügte, daß sie etwas zerstörten. Keiner überprüfte die neue Realität. Alle setzten ihre Hoffnung auf die neue Linie. Sie versprach Beute. Während Gorbatschow seine Gegenkoalition auf Verzichte hätte gründen müssen. Er hätte höchstens Beförderung versprechen können.
– Hatte er eine Chance?
– Wenn er, gleich nach seiner Rückkehr von der Krim, von Anfang an alle Kontakte und Telefonate selber geführt hätte. Er hätte ein persönliches Telefonbuch von 1000 Seiten führen müssen. Wer diese obersten Stellungen innehat, kann bei einem so komplexen Imperium nicht selber den Telefondienst machen.
– Der Telefondienst brach wann zusammen?
– Am 16. Dezember hörte er spätnachmittags auf zu telefonieren.
– Verzweifelt?
– Zu müde dafür.
– Wo saß er?
– In seinem Zimmer. Bestellte ein Tablett mit Kaffee.
– Was dann? Machte Notizen?
– Fing mit Notizen an für sein Erinnerungsbuch. Da wußten wir: Es ist aus.
– Zwei Stunden später der Besuch Jelzins und der Abtransport des Präsidenten aus dem Kreml?
– Ja. Aber Jelzin kam nicht. Er kündigte seinen Besuch an und kam nicht. Der Präsident bestieg die bereitgestellten Transportmittel.
– Durfte er seine persönlichen Sachen mitnehmen?
– Nichts.
– Hatte er als Präsident abgedankt?
– Nach seiner Auffassung nicht.
– Ist er noch heute Präsident der Sowjetunion?
– Natürlich.
– Ein oberflächlicher Putsch, nicht wahr?
– Und verschleiert für die Bevölkerung, als sei die UdSSR ordnungsgemäß aufgelöst und übergeben worden. Es war ein Raubzug.
– Ein Gemeinwesen wird bestohlen?
– Angeeignet. Das war der Thermidor, auf den wir seit 1921 gewartet hatten.
– Im Sinne von: Eigentum ist Diebstahl?
– Ja. Vor allem, wenn es sich um die Aneignung eines Gemeinwesens handelt.
– Warum sagen Sie nicht Staat?
– Weil es um den nicht schade war. Ein Staat stirbt ab, ein Gemeinwesen nicht.
– Was war eigentlich die Sowjetunion?
– Eine interessante Frage!

Alexander Kluge

Sehen Sie dazu auch auf dctp.tv:

► Nachruf für Michail Gorbatschow (16 Filme)