Männer und Frauen in Russland, sagt der Dichter Turgenjew, sind grundsätzlich außerstande, einander zu verstehen. Ein Teil der Trägheit und Melancholie, aber auch der Gefühlsstärke dieses Landes sei darauf zurückzuführen, dass jedes dieser Geschlechter auf einem anderen Planeten lebt. Die Autorin und Journalistin Swetlana Alexijewitsch geht in ihrem neuesten Buch diesem Zerwürfnis zwischen Mann und Frau nach. Sie fand zweierlei heraus: Jede Landschaft in Russland bringt auch eine eigene Gefühlslandschaft hervor. Diese inneren Landschaften sind heute um so wichtiger, als die äußeren. Ziele (auch bedingt durch den Zusammenbruch des Imperiums) verblassen. Die Welt der Gefühle wird zu einer Welt, nach der sich die Menschen richten. Zugleich haben sich Teile der Außenwelt, z. B. in Tschernobyl, so radikal gewandelt, dass die Bilder, über die sich die Gefühle verständigen können, nicht mehr passen. Swetlana Alexejewitsch berichtet hierzu erschütternde Geschichten. Es entsteht ein Bruch in der Kultur. Die Bücher von Swetlana Alexijewitsch kommen jetzt nach Deutschland. Sie sind packend und immer kontrovers. Ihr Buch „Zinkjungen, Afghanistan und die Folgen“ (1991) handelt von den Soldaten, die in Afghanistan eingesetzt wurden und die die Heimat dann nicht wieder zurücknehmen wollte. Ihr Buch „Im Banne des Todes. Geschichten russischer Selbstmörder“ (1994) handelt von der rasanten Zunahme von Selbstmorden nach dem Zusammenbruch des Imperiums. Ihr erstes Buch „Der Krieg hat kein weibliches Gesicht“ (1987) beschreibt die Erfahrungen von weiblichen Partisanen im Russlandkrieg. Besonders eindrucksvoll ist das Buch über ihre Recherchen in der verbotenen Zone von Tschernobyl, das in diesem Herbst in Deutschland erscheinen wird. Nie machte sie sich mit ihren Büchern Freude im eigenen Land. Ihr neuestes Buch, von dem unsere Sendung handelt, wird in Russland demnächst erscheinen. Es geht dort um Interviews, Lebensberichtet aus dem aktuellen Leben, aber immer auch um den Kampf der Geschlechter, der älter als 6000 Jahre ist. Übersetzung: Rosemarie Tietze.
► Chaos im Land der Gefühle (News & Stories vom 28.04.1997)
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► Selbsttötung als letztes Argument
Das neueste Buch der weißrussischen Autorin Swetlana Alexijewitsch heißt: „Im Banne des Todes, Geschichten russischer Selbstmörder“. Nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums haben die Freitode in Russland massiv zugenommen. Swetlana Alexijewitsch ist den Einzelschicksalen nachgegangen, sowohl in Fällen des versuchten Selbstmordes, wie in den Fällen von Lebenskatastrophen, die nicht verhindert wurden. Der Marschall der Sowjetunion Achramejew setzte seinem Leben bereits unmittelbar nach dem Putsch in Moskau im August 1991 ein Ende. Andere Menschen, wie eine Kellnerin, ein Söldner, ein Techniker, eine Ingenieurin geraten in die Lebenskrise aus scheinbar unpolitischen Gründen. Wie bei den berühmten Selbstmordfällen im Russland der 20er Jahre (Zwetajewa, Jessenin, Majakowski) deutet die Selbsttötung oder der Selbsttötungsversuch an, dass sich ein Mensch von der Zeitgeschichte zerschlagen fühlt: So kann er nicht leben. Der Freitod ist ein letzter Einspruch, ein letztes Argument in einer Gesellschaft, die so viele Jahrzehnte auf dem Argumentieren beruhte.
► Die Abgründe meines Jahrhunderts
In dem Politbüro, das unter Gorbatschow die Perestroika und Glasnost einleitete, war Alexander Jakowlew der führende theoretische Kopf. Unmittelbar vor dem Moskauer Putsch, auf dem dramatischen letzten Parteitag der KPDSU, trat er von allen Ämtern zurück. Aus Protest gegen Gorbatschows Zögern. Seine Autobiografie gibt spannende und neue Einblicke in die „Nachtstunden des Jahrhunderts“, die zum Abbruch des Reformprozesses in Russland führten. Begegnung mit dem heutigen Historiker und früherem Politbüromitglied Alexander Jakowlew.
► Russland hat ein weibliches Gesicht
„Liebe – Macht – Passion“ heißt das faszinierende Buch von Tatjana Kuschtewskaja über russische Frauen. Es geht um die Zarin Katharina (die eine deutsche Prinzessin war), die Kavallerie-Offizierin Nadeschda Durowa, die Revolutionärin Alexandra Kollontai, die Schauspielerin Olga Tschechowa und viele andere. Russische Frauen sind höchst verschieden, äußerst autonom und immer anders als das Vorurteil glaubt.
Gerd Ruge ging 1956 als erster ARD-Korrespondent nach Russland. In der Krise des Imperiums war er Leiter des ARD-Filmstudios in Moskau. In seinen TV-Reportagen und in seinem faszinierenden Buch WEITES LAND berichtet er von dem, was er selber sah und erlebte. Was ist das für eine Zeitreserve des Planeten: Das weite Land, das wir Sibirien nennen? Auf dem teuersten Bauplatz Russlands, im Zentrum von Moskau, wird die Erlöserkirche wiedererrichtet. Sie wurde einst von dem Zaren gebaut, um den Sieg über Napoleon zu feiern. Tschaikowsky schrieb für die Akustik dieser Kirche die „Ouvertüre 1812“. Die Sowjets rissen 1931 das große Gebäude ab. Sie wollten dort den Palast der Sowjets errichten. Chruschtschow machte ein Freiluftschwimmbad daraus. Jetzt sammelt der OB von Moskau Luschkow von den Banken das Geld, um die Kirche neu zu errichten und die Schindeln des Daches zu vergolden. Ein Land voller Chancen und Merkwürdigkeiten: Gerd Ruge über russische Perspektiven, russische Erfahrungen.