Aus dem Archiv: Die neue Unerbittlichkeit



In fast allen westlichen Öffentlichkeiten werden in den 90er Jahren Angstbilder diskutiert und von den Medien verbreitet. Die Angstbilder beziehen sich auf Gewalttaten, Täter und Fremde. Sie produzieren Fremdenhass, Ausgrenzung und einen neuen „Extremismus der Mitte“. Diese Bilder entstehen nämlich aus dem Gefühl von Menschen und aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Diese Bilder, sagt der Sozialforscher Dr. Joachim Kersten, trennen sich zunehmend von der Tatsachenwelt. Die Kriminalstatistik zeigt gerade in den Bereichen, in denen die stärksten öffentlichen Emotionen und Bilder in Bezug auf Gewalttaten herrschen, eine Abnahme dieser Art von Gewalt. Dies macht aufmerksam auf den Status der sog. Moral-Unternehmer. Lebten früher die Kirche, die Schulen und die Obrigkeit vom moralischen Mehrwert, so ziehen heute auch ursprünglich emanzipatorische Gruppen einen Moralprofit aus den Gewaltbildern, gerade wenn solche im Kern emanzipatorischen Gefühle sich ein Täterbild, ein Fremdenbild und ein Feinbild machen, geht in die Diskussion ein Schub von irrationaler Kraft ein: Die neue Unerbittlichkeit. Gegen sie hat der Satz: „Im Zweifel für den Angeklagten“ nur eine schwache Gegenwirkung.

► Die neue Unerbittlichkeit (News & Stories vom 24.10.1994)


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► Trotzkultur gegen Kontrollkultur
Ende des 2. Weltkriegs organisierten sich im Deutschen Reich rebellierende Jugendliche aus dem Arbeitermilieu als „Edelweiß-Piraten“ und Jugendliche aus der gehobene Schicht als „Swing-Jugend“. Polizei und SS-Führung verfolgten die jugendlichen Rebellen. Es wurden Todesurteile und KL-Haft verhängt. Zur Swing-Jugend gehörte auch Axel Springer.

Der Kriminalsoziologe Prof. Dr. Joachim Kersten beschreibt, von diesen Beispielen ausgehend, 50 Jahre Jugendprotest in Deutschland, bis hin zu den Skins von heute: die Trümmerjugend, die Exis, die Halbstarken, den Schüler- und Studentenprotest, die Punkszene usf.


► Professionelle Gewalt (Police Accountability)
Auf internationalen Fachtagungen der Polizei tritt neuerdings ein Thema in den Vordergrund: „police accountability“ – wörtlich: Buchführung der Polizeiarbeit. Das Gewaltmonopol in modernen Gesellschaften liegt beim Staat; es verlangt nach Rationalität und Abrechnung.

Was passiert, wenn das Verbrechen sich in der Polizei selbst einnistet? Wie prüft man im Polizeieinsatz die Verhältnismäßigkeit der Mittel? „Police ethics“ ist der amerikanische Ausdruck für professionelle Polizeiarbeit. „Police culture“ bedeutet nicht Polizeikultur, sondern Corpsgeist, die Abschirmung der Polizei gegen Kritik. Ein Einblick in das Babylon der modernen Polizei-Diskussion mit vielen praktischen Beispielen.

Prof. Dr. Joachim Kersten über das staatliche Gewaltmonopol und seine moderne Praxis. Es geht um Polizei, Rationalität, Abrechnung.


► Baustellen der Macht
Die französischen Philosophen Michel Foucault und Gilles Deleuze haben die Begriffe der Disziplinierungsgesellschaft („Prozess der Aufklärung“, „Zivilisation“) und der heute nachfolgenden Kontrollgesellschaft („Großer Bruder“) in die europäische Diskussion eingeführt. In deutschsprachigen Ländern sind diese Begriffe noch ungewohnt. Dennoch beschreiben sie wesentliche Tatbestände und Veränderungen, die uns weltweit im Jahre 2003 beschäftigen: die Transformation der Gewalt. Sie ist nur als „Wurzelwerk“, d.h. als „Rhizom“, zu beschreiben, sagen Michel Foucault und Gilles Deleuze. Prof. Dr. Joseph Vogl, Bauhaus-Universität Weimar, berichtet über: Baustellen der Macht.