Alexander Kluge/Joseph Vogl: Senkblei der Geschichten. Gespräche.


Passion der zielführenden Abschweifung

Seit Jahrzehnten pflegen Alexander Kluge und Joseph Vogl ihren Ideenaustausch als kooperative Unterscheidungs- und Assoziationskunst. Wie bereits in dem Band Soll und Haben werden auch hier in einer Art liquidem Gedankentransfer die Realitäten am Literaturvorrat scharf gestellt, mögliche Zukünfte entlang von Geschichten neu kon­stelliert: ein auslotendes Vagabundieren, das vom Bau der Chinesischen Mauer bis ins Silicon Valley, vom »Roman der Börse« zum »unbeschriebenen Blatt Europa«, vom Boulevard Haussmann bis vor ein »Loch in der Wirklichkeit« führt.

Dass diese Passion der zielführenden Abschweifung, des tastenden Vergegenwärtigens im Kopf des Lesenden äußerst elektrisierende Wellen schlägt, macht auch dieser Band erfahrbar: Senkblei der Geschichten präsentiert eine Auswahl neuerer und ­neuester Gespräche bis in den April 2020 hinein. Ein erfrischendes Vademecum nicht zuletzt in unübersichtlicher Zeit, um angesichts eines »Zerfalls der Wirklichkeit« einen klaren Kopf zu bekommen.

Alexander Kluge/Joseph Vogl: Senkblei der Geschichten. Gespräche.
Diaphanes Verlag, Zürich 2020. 208 Seiten, 18 Euro.
ISBN:3035803471

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Pressestimmen
Aus den Löchern der Kausalität erhebt sich Godzilla

Süddeutsche Zeitung (Thomas Steinfeld, 11.08.2020)

Wenn Alexander Kluge, der Schriftsteller, und Joseph Vogl, der Literaturwissenschaftler, miteinander vor laufenden Fernsehkameras reden, nennen sie das Ergebnis ein „Gespräch“. Und gewiss, dargeboten werden Rede und Gegenrede, in permanentem Wechsel. Indessen ist spätestens nach ein paar Minuten zu bemerken, dass der Literaturwissenschaftler meist mehr zu sagen hat als sein Gegenüber. Auch tragen die Einlassungen einen jeweils anderen Charakter: Der Schriftsteller setzt die Themen, in Gestalt von Stichworten, er fragt nach, er fügt hinzu, er öffnet einen Horizont, und er fällt dem Literaturwissenschaftler ins Wort. Er tut es so oft und so gründlich, dass der „Fluss“ eines solchen Gesprächs als ein eher unreguliertes Unternehmen erscheint: als unregelmäßige Folge von Windungen, Abwegen, Stauungen und Beschleunigungen. Ein Titel wie „Unterbrechungen“ wäre der Veranstaltung also durchaus angemessen. Beide Teilnehmer sind aber mit Begeisterung bei der Sache, und so dürfte es auch den meisten Zuschauern oder Lesern der Gespräche gehen.
 
So gestaltet sich gleich das erste Gespräch, das Erzählungen vom Zweikampf zwischen Mensch und Natur gewidmet ist und mit der Jagd des Kapitäns Ahab auf den weißen Wal beginnt, als ein wilder Parcours über den Globus. Für ein paar Augenblicke dreht sich das Gespräch um das Meer als Inbegriff des Bodenlosen, und dann wird über das Weiße nachgedacht, über die „Totenfarbe schlechthin“. Und weiter geht es zu den Löchern in der Kausalität, aus denen sich dann Godzilla erhebt, als spezifisch japanischer „Bausatz des Furchterregenden und Ekelhaften“, bis Rede und Gegenrede beim Erzählen schlechthin ankommen.

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