Das Corona-Virus hat uns an eine Zeitenwende gebracht. Beides ist jetzt möglich, das Strahlende und das Schreckliche.
Ist der aktuelle Shutdown unserer Gesellschaft auch ein Shutdown unserer Grundrechte? Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge gehen der Frage nach, was die Corona-Pandemie für unsere Gesellschaftsordnung und unsere bürgerliche Freiheit bedeutet.
„Niemand hätte sich vor zwei Monaten vorstellen können, dass wir diesen Ausnahmezustand erleben. Es wird heute von manchen behauptet, das sei die Zeit der Exekutive. Aber das ist falsch. Wir leben in Demokratien, wir haben eine Gewaltenteilung. Noch immer muss das Parlament entscheiden, und daran darf sich auch nichts ändern. Noch scheint unsere Demokratie nicht gefährdet. Aber die Dinge können kippen. Autoritäre Strukturen können sich verfestigen, die Menschen gewöhnen sich daran. Erosionen sind langsame Abtragungen, keine plötzlichen Ereignisse.“
Luchterhand (www.randomhouse.de)
Hardcover, Pappband, 80 Seiten, € 8,00
ISBN: 978-3-630-87658-0
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Pressestimmen
Der Helmut Schmidt von Lissabon
der Freitag (Jamal Tuschick, 02.05.2020)
Als die Beulenpest 1348 Florenz erreichte, begann das große Sterben unter Aufsicht eines Schriftstellers. Boccaccio hielt fest, wie man mit dem massenhaften Tod verfuhr. Er protokollierte die Prozesse der Verrohung.
Daran erinnert Ferdinand von Schirach in seinem Corona-Gespräch mit Alexander Kluge. Schirach sieht sich in der Lage um, die Boccaccio im „Decamerone“ schildert. Der Autor machte ein Landhaus vor Florenz zum Schauplatz einer Begegnung Heimgesuchter. Sieben Frauen und drei Männer sind vor der Pest in die florentinischen Hills geflüchtet. Angehoben von Sommerfrische-Empfindungen und gedämpft von Angst stellen sie die Gegenwärtigkeit eines schrecklichen Todes in den Glanzschatten der Erzählkunst. Der italienische Literaturvorsprung ergibt sich aus dem Einschluss schwerwiegender Bedrückung und altem Wissen. Die Pest gebar die Neuerer der Renaissance auf einem römischen Feldbett.
Kluge bilanziert: „Aus der Seuche entsteht etwas Neues.“
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Schnellschuss-Dialog über Viren und Chancen
Der Standard (Bert Rebhandl, 17.05.2020)
Jede Krise, die etwas auf sich hält, braucht eigene Begriffe. Auf die Gesundheitskrise, die das Coronavirus ausgelöst hat, haben nahezu alle Staaten mit verschiedenen Formen von „Lockdown“ oder „Herunterfahren“ reagiert. Was aber, wenn das Aufschließen und das Hinauffahren die Krise wieder stärker werden lassen?
Alexander Kluge hat dafür auch schon einmal einen Begriff gewählt: Wir leben nun wohl für eine Weile mit einer eingebauten „Stotterbremse“. Das Fahren auf Sicht, vielleicht sogar im Nebel zwischen Wissenschaft und Kontrollkommunikation, wird so schnell nicht wieder den Gasfuß finden, auf dem die ganze Welt bis vor kurzer Zeit noch stand.
Kluge ist ein Wörterfinder, und das ist auch seine Rolle in dem Dialog mit Ferdinand von Schirach, in dem sich die beiden Schriftsteller, die einiges mehr sind als das, über die Corona-Krise austauschen. Ende März war das, nun ist das Buch da: Trotzdem. Ein Schnellschuss, der aber als Flugblattschrift seine Berechtigung hat.
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„Ein Mensch ist nicht der Richter über das Leben eines anderen“
Deutschlandfunk Kultur (Dieter Kassel, 27.04.2020)
Dieter Kassel: Der Filmemacher, Produzent, Schriftsteller, Philosoph und Jurist Alexander Kluge und der Schriftsteller, Dramatiker und Strafverteidiger Ferdinand von Schirach sind sicherlich insofern außergewöhnliche Menschen, als sie Außergewöhnliches schon geleistet haben und öffentlich relativ bekannt sind. Das ändert aber nichts daran, dass sich auch die beiden an die Vorschriften im Zusammenhang mit der Coronapandemie halten müssen. Deshalb haben sie an einem Tag in zwei Teilen ein Gespräch geführt – der eine war in Berlin und der andere in München.
Dieses Ferngespräch über den bekannten Messengerdienst Skype ist jetzt als eine Art Gesprächsprotokoll in Buchform erschienen. Heute kommt „Trotzdem“ – so heißt dieses Gemeinschaftswerk – als E-Book heraus, in ein paar Tagen gibt es dann auch eine gedruckte Version. Wir wollen über dieses Gespräch und über das, was ich schon in dem Buch nachlesen konnte, mit einem der beiden reden, mit Alexander Kluge nämlich.
Ich werde nicht über Inhalte sprechen, aber ich sterbe da auch so ein bisschen vor Neugier: Wie ist das wirklich abgelaufen, ganz normale Videokonferenz und einer saß im Garten und der andere 500 Kilometer weit weg im Arbeitszimmer?
Alexander Kluge: Ja, das mit den Kilometern stimmt. Es ist auch überraschend für mich, weil ich das früher nicht dauernd gemacht habe. Man sitzt dann wie Wand an Wand, wie im Nebenzimmer. Man ist im Grunde näher, also erzwungenermaßen näher zueinander, als man normalerweise ist, weil man dann reisen müsste und gar nicht so oft zusammen ist.
Schirach rief mich spontan an und sagte, bitte, gehen Sie doch mal an Skype. Dann wählte er meine Nummer und wir haben gesprochen. Ich glaube, uns allen ist es so gegangen, dass das in den ersten Tagen eine Überraschung war, die wir so im Leben nicht erlebt hatten.
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Das Dilemma politischer Entscheidungen
Berliner Zeitung (Harry Nutt, 03.05.2020)
Niemand hat die Fähigkeit zum Zuhören derart zu einem Erkenntnisinstrument verfeinert wie der Schriftsteller, Filmemacher und Jurist Alexander Kluge. In den Gesprächen für das Kulturmagazin DCTP auf RTL lauert er seinen Gästen eher auf, als dass er sie bloß zu Wort kommen lässt. Kluge schnappt Stichworte auf, gibt sie verändert zurück und macht so deutlich, dass Expertenwissen nicht einfach nur in Personen aufgehoben ist, sondern eben auch situativ hervorgebracht werden kann. Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden (Kleist) hat Alexander Kluge in das Fernsehzeitalter überführt. Wissen wird in diesem Format immer auch zur Erzählung.
Gleich mehrfach hat Kluge sich dazu den Schriftsteller und Dramatiker Ferdinand von Schirach eingeladen, hinsichtlich ihres juristisch geschulten Denkens darf man die beiden, etwas altmodisch ausgedrückt, als geistesverwandt bezeichnen. So sehen sie das in dem Band „Trotzdem“ auch selbst. Ende März, knapp drei Wochen nachdem die Weltgesundheitsorganisation WHO die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 zu einer Pandemie erklärt hatte, führten Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach zwei Gespräche über einen Instant-Messaging-Dienst.
Sie nehmen den Leser darin mit in ihre Welt assoziativer Wahrnehmungen, in der sie die Phänomene der sozialen Isolation, politische Entscheidungen und juristische Fragestellungen mit ihrem kritischen Urteilsvermögen und persönlichem Unbehagen abgleichen.
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Ferdinand von Schirach ist bekannt als Strafverteidiger und zugleich als erfolgreicher literarischer Autor. Sein Theaterstück „Terror“ gehört an deutschen und ausländischen Bühnen zu den meistgespielten Gegenwartsdramen.
In der vorliegenden Sendung geht es um den Prozess Calas, um moderne Prozesserfahrung und ihre Wiedergabe in den Stoffen des True Crime.
In einer Atmosphäre des religiösen Fanatismus wurde im Jahre 1762 der hugenottische Kaufmann Jean Calas wegen angeblichen Mordes an seinem Sohn in einem haarsträubenden Prozess zum Tode verurteilt und gerädert. Bis zuletzt suchten die Justizbehörden ein Geständnis von ihm zu erlangen. Die furchtbare Exekution ertrug Calas mit bewundernswerter Haltung.
Der Philosoph, Theatermann und Anwalt Voltaire griff diesen Fall auf und setzte die Kassation des Urteils durch das königliche Obergericht in Paris durch. Europas Öffentlichkeit verfolgte mit Spannung diese Kampagne. Es war der erste Durchbruch einer kritischen Öffentlichkeit gegenüber mittelalterlicher Justiz. Voltaires Schrift „Über Fanatismus“ begründete die Aufklärung im Justizwesen. Von da an wurde (außer in Diktaturen) der Ausschluss von Öffentlichkeit, also Geheimprozesse, unmöglich. Es galt künftig Voltaires Satz: „Wenn 1.000 Zeugen etwas Unsinniges behaupten, gilt immer noch die Macht der Tatsache.“ Mit der Intervention Voltaires entstand exemplarisch der Typ des „Anwalts der Öffentlichkeit“ und der Begriff des „philosophe“ in Frankreich. Bis hin zur Affäre Dreifuss war kritische Öffentlichkeit eine Institution. Diese Richtung der Vernunft kommt nicht aus dem Verstand, sondern aus dem Herzen. Es gehört Großmut, Wagemut und Entschiedenheit zu diesem Typ des kritischen Geistes. „Denken ist eine Form des Verhaltens“.
Das ist im 21. Jahrhundert aktueller denn je.
True Crime, also die authentische Darstellung von Verbrechen und ihrer Verfolgung, gehört zu den attraktiven Stoffen der Massenmedien aber auch der Poetik. Das reicht von Kleists Boulevardzeitung von 1810 BERLINER ABENDBLÄTTER über Edgar Allen Poe bis zu Truman Capote und dem breiten Netz moderner Stoffe bis hin zu „Making a Murderer“ und „Drugs Inc.“.
In dem Gespräch – einem Beispiel für „Gründlichkeit“ – nimmt Ferdinand von Schirach die Reibungsfläche zwischen Klischee und authentischer Dichtung ins Visier. Poetik ist „die Kunst, Unterschiede zu machen“. Kein Zeitalter hatte einen solchen Bedarf und eine solche Fülle an Stoff für die Dichtkunst vor Augen wie unser 21. Jahrhundert.