Der Tempel der Ernsthaftigkeit. Virtueller Rundgang durch 9 Stationen der Ausstellung im Württembergischen Kunstverein, Stuttgart.

2017 widmete der Württembergische Kunstverein dem Schriftsteller, Filmemacher und Theoretiker Alexander Kluge eine große Einzelausstellung, die in Zusammenarbeit mit dem Kunstzentrum La Virreina Centre de la Imatge in Barcelona entstanden war. Bereits damals spielte die Musik eine zentrale Rolle, ein Aspekt, der mit dem neuen Projekt, eine Ausstellungsreihe, die parallel an drei verschiedenen Standorten stattfindet – in Stuttgart, Ulm und Halberstadt – vertieft wird.

Gefragt wird nach der Rolle der (spätestens) im 17. Jahrhundert entstandenen Oper als ein heutiger „Tempel der Ernsthaftigkeit“ (Kluge): als ein Ort, an dem Ernst, Trauer und Freude zum Ausdruck kommen und Verluste angemessen betrauert werden können. Bei der Ausstellung im Kuppelsaal des Stuttgarter Kunstgebäudes handelt es sich um eine Gesamtinszenierung, die eine neunteilige Videoinstallation mit Fragmenten eines Bühnenbildes von Anna Viebrock und weiteren Elementen verbindet. Katharina Grosses atomisch kleines „Kino“ (atopic cinema) erscheint in einer Collage von Alexander Kluge. Ein Auszug von Lászlo Moholy-Nagys Leben als Kanonier wird von Zeichnungen des jungen Stuttgarter Künstlers Ivan Syrov begleitet.

Die Ausstellung ist in neun Stationen unterteilt, die wiederum in neun Untersektionen gegliedert sind. Die Stationen sind im Raum als eine Montage in Konstellationen angelegt und überschneiden sich architektonisch und visuell. Die Stationen reflektieren zum einen den Gegenstand Oper im unmittelbaren Bezug auf die ihr eigenen Formen der Aufführung: dem Himmel im Operngewölbe, dem Tempel und seinen Untergrund sowie dem Kehlkopf, in dem sich die Stimme formiert. Zum anderen verbinden sich die historischen Opernerzählungen mit der Neu- und Forterzählung ihrer Stoffe im Zeitbezug der Zwischenkriegs- und Nachkriegsmoderne bis zu unserer Gegenwart. Alexander Kluge kommentiert dieses Verfahren wie folgt: „In Stuttgart liegt der Fokus auf INTELLIGENZ, MODERNE und ERKENNTNIS. Alle drei Kategorien sind den Opern von Haus aus eher fremd. Andererseits weiß man aus dem Geschäft der Eheanbahnung: Gegensätze ziehen sich an!“

Alexander Kluge. Oper: Der Tempel der Ernsthaftigkeit
Württembergische Kunstverein, Schlossplatz 2, D-70173 Stuttgart
Verlängert bis mindestens zum 10. Mai 2020 und bis auf Weiteres leider nur virtuell erfahrbar.
► Zur Website des Würtembergischen Kunstverein Stuttgart

Ausstellungsansichten

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► Themenkomplex: OPER: DER TEMPEL DER ERNSTHAFTIGKEIT

Filme der Station 1 ansehen

Himmelskarte der Opernstoffe

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In der Opernpause: Die Minutenopern

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Flucht, Grenze

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Von der Zerbrechlichkeit des Menschen

 

 

 

 

Filme der Station 5 ansehen

Das dünne Eis der Zivilisation

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Nachtflug (Irrflug, Blindflug)

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Der See unter der Oper

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Was heißt Moderne in der Oper?

 

 

 

 

 



Pressestimmen:
Über die Weisheit des Virus – Wie Alexander Kluge die Absage seiner Stuttgarter Ausstellung erlebt (Abo)

Frankfurter Allgemeine Zeitung (Von Von Patrick Bahners, 16.03.2020)

Es ist eine extreme Herausforderung. Als würde man gegen ein Gerät schlagen, um es zu reparieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass das bei vielen Apparaten so funktioniert, ist nicht so groß. Wir werden geresettet, mit Gewalt. Damit bekommen wir Bodenhaftung.

Das Verhängte muss angenommen werden. Wo es um Leben und Tod geht, setzt der Kunstgenuss aus. Medizinische Notwendigkeit verdunkelt den Spielraum der Phantasie. Im Ernstfall endet die Vorstellung, ohne dass der Vorhang fällt.

Als kleinem Jungen fiel Alexander Kluge die Rolle des Boten zu, der im Theater diese plötzliche Unterbrechung zu verkünden hatte. Flüsternd, denn seine Botschaft war nur für das Ohr eines einzigen Zuschauers bestimmt und durfte den Vorstellungsbetrieb nicht stören. Sein Vater war in Halberstadt der Theaterarzt, saß von Amts wegen im Parkett. Wenn ihn der Ruf der höheren im Sinne von akuten Pflicht ereilte, nahm der Abend gewöhnlich noch ein heiteres Ende, denn Doktor Kluges Fachgebiet war die Geburtshilfe. Und was er versäumt hatte, war nicht verloren, weil auf die Premiere eine zweite Vorstellung folgte.

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Nachts unterm Opernhimmel

KONTEXT:Wochenzeitung (Von Dietrich Heißenbüttel, 25.03.2020)

„Ein Blick in den Kosmos des Denkens von Alexander Kluge wartet im Württembergischen Kunstverein fertig aufgebaut auf die Besucher, die aber vorerst nicht hinein dürfen. Thema ist die Oper. Doch es geht um viel mehr.

„Ich sehe ein Bein fliegen“, sagt Helge Schneider alias Major zu Redelbeck, mit einem Stahlhelm auf dem Kopf und einem eisernen Kreuz am roten Band um den Hals, nach einem Blick in seinen Feldstecher. Allerdings hat er kein Kriegsgeschehen vor Augen. Was er sehe, teilt der Major mit, sehe nach einer Tanzkompagnie aus. Denn er habe ein Fernglas geschaffen, in das eine Art Kaleidoskop eingebaut sei. „Die Seele hungert nach vier Jahren Krieg“, so der Major. „Der Mensch ist für das Schöne geschaffen“, sekundiert Alexander Kluge aus dem Off. „Das Schöngeistige leidet im Feld“, gibt der Offizier zurück. Dieses „immerwährende graue Matschige“ führe am Ende nur dazu, dass alle weglaufen.

Das vierminütige Video scheint Kluge besonders zu gefallen. Jedenfalls macht er die Journalisten beim Pressetermin zu seiner Ausstellung im Württembergischen Kunstverein (WKV) extra darauf aufmerksam. Die Medienvertreter waren die letzten, die diese Ausstellung noch zu sehen bekamen. Die Eröffnung wurde abgesagt.

Was aber hat dieser filmische Dialog zwischen Major und Künstler mit der Oper zu tun, um die es in Kluges Ausstellung gehen sollte?

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Der blaue Frühlingshimmel dieser Tage – Alexander Kluge über Ausnahmezustände

MONOPOL (Von Daniel Völzke, 05.04.2020)

Wie erleben Sie die jetzige Krise?
Es ist eine extreme Herausforderung. Als würde man gegen ein Gerät schlagen, um es zu reparieren. Die Wahrscheinlichkeit, dass das bei vielen Apparaten so funktioniert, ist nicht so groß. Wir werden geresettet, mit Gewalt. Damit bekommen wir Bodenhaftung.

Ihr Urerlebnis von Ausnahmezustand war der Bombenangriff von Halberstadt. Die meisten von uns erleben die jetzige Krise im relativ geregelten häuslichen Alltag und unter Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung.
Aber im exzessiven Frühling des März 1945 zeigten die Bombengeschwader ihre Kondensstreifen auf einem strahlend blauen Himmel. Der unsichtbare Gegner, mit dem wir es jetzt zu tun haben, ist nicht so sehr davon verschieden. Die Viren koexistieren in diesen Tagen mit einem ähnlich blauen Frühlingshimmel, wie er für den Frühling 1945 charakteristisch war.

Eine „Naturkatastrophe in Zeitlupe“ nennt der Virologe Christian Drosten die Corona-Bedrohung.
Das ist gut gesagt. Alles was auf den Atemweg zielt, „uns an die Kehle geht“, erinnert an den Gaskrieg. Ich ersticke im Keller, ich werde verschüttet im Bombenkrieg oder am 11. September 2001. Ich weiß nicht, ob ich rechtzeitig ein Atemgerät bekomme, wenn ich an Covid-19 leide. Es kann sein, dass ich auf dem Krankenhausflur auf meinen Tod warten muss. Dass mir der Kopf abgeschlagen wird durch die Guillotine, ist nicht so erschreckend, wie das!

Warum ist das so?
Wir haben in unserer Lunge einen Schutzengel. Es ist unmöglich, sich willentlich zu ertränken. Ich muss mich mit Gewichten behängen, wenn ich in den Brunnen springe und vorsätzlich unter Wasser bleiben will. Oder so weit rausschwimmen, dass ich nie wieder zurück kann. Anders geht es nicht, denn etwas sitzt in unserer Lunge, ein Überlebenswille, eine unbezwingliche Lust am Atmen, die sich gegen jeden Willen durchsetzt.

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Copyright Fotos: Würtembergischer Kunstverein Stuttgart