„Menschen haben zweierlei Eigentum: ihre Lebenszeit, ihren Eigensinn. Davon handeln die folgenden Geschichten.“ Aus der geschriebenen „Chronik der Gefühle“ von Alexander Kluge wird in Bearbeitung und Regie von Karl Bruckmaier ein akustisches Geistesblitzgewitter: Von Kluge gelesene Texte wechseln mit inszenierten Parts, Gesprächssequenzen mit musikalischer Improvisation und Popsongs. Jeder Teil wird von einem Minutensong eröffnet. Die 14 Teile sind in sich abgeschlossen und können in beliebiger Reihenfolge gehört werden.
Mit Alexander Kluge, Wolfgang Hinze, Ilja Richter, Hanns Zischler, Nico Holonics, Peter Fricke, Helmut Stange, Christian Friedel, Hannelore Hoger, Monika Manz, Volker Schlöndorff
Musik: Abe Duque sowie Solisten des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks
Regie: Karl Bruckmaier / BR 2009
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Chronik der Gefühle (1/14) Der Eigentümer und seine Zeit
Wie lassen sich 0,0001% der Lebenszeit darstellen? Alexander Kluge lässt Wiens Gauleiter Baldur von Schirach im März 1945 – in aussichtsloser Lage und nachdem die Oper abgebrannt ist – das Orchester in verschiedenen Luftschutzkellern der Stadt Wagners „Götterdämmerung“ weiterproben. Der Rundfunk Salzburg weigert sich die Aufnahme zu übertragen und spielt bis zur Übergabe der Stadt nur noch Märsche.
Chronik der Gefühle (2/14) Verfallserscheinungen der Macht
Am Nikolaustag 1989 imaginiert Alexander Kluge „Verfallserscheinungen der Macht“ in der DDR, findet und erfindet Nebengeschichten. Bemerkenswert ist dabei sein ungebrochener Optimismus. Motivation seiner Arbeit ist nicht Theodor W. Adornos Leitsatz „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, sondern dessen weniger bekannte Aussage „weder von der Macht der anderen noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen.“
Chronik der Gefühle (3/14) Basisgeschichten
Basis der Geschichten sind die zwischenmenschlichen Beziehungen. Die sind nicht immer leicht, sondern oft traurig, tragisch oder tödlich. Eine Frau leidet an ihrem röchelnden Mann, der sich „wie ein Brathähnchen“ in den untrennbar miteinander verbundenen Ehebetten dreht, eine andere kann ihren Scheidungstermin nicht wahrnehmen, da ihr Mann ihr Lieblingspferd köpft und sich selbst erschießt. Menschen suchen nach ihrem Platz in der Welt. Wo finden sie Orientierung? Wem können sie vertrauen?
Chronik der Gefühle (4/14) Heidegger auf der Krim
Suche nach Auswegen im erfundenen Ernstfall: Eine Gruppe von Universitätslehrern wird 1941, unmittelbar nach Einnahme der Krim, ins Frontgebiet geflogen. Ihre Aufgabe ist die Sicherung und Bestandserhaltung von Kulturgütern. Mit dabei ist der Philosoph Martin Heidegger und wird Zeuge einer geplanten Exekution. „Eine kleinwüchsige, dunkeläugige Frau hat eine Kinderhand in meine gelegt und ich habe zugegriffen. Das ist eine peinliche Lage. Zugleich hätte ich es als peinlich empfunden, das Kind einer Wache zu übergeben oder in die Schlange zurückzuführen.“ Heidegger betrachtet das ihm anvertraute Kind als „Übungsfall“ und spielt die Möglichkeiten seiner Rettung in Gedanken durch.
Chronik der Gefühle (5/14) Schlachtbeschreibung
Die Katastrophe der 6. Armee in der Schneewüste von Stalingrad. Wer in Stalingrad etwas sah, Aktenvermerke schrieb, Nachrichten durchgab, Quellen schuf, stützte sich auf das, was zwei Augen sehen können. Ein Unglück, das eine Maschinerie von 300.000 Menschen betrifft, ist so nicht zu erfassen. Von 300.000 Menschen, die unmittelbar beteiligt waren, gingen etwa 86.000 in Gefangenschaft, nur 5.000 kehrten nach Hause zurück. Sie wurden wenig befragt. „Schlachtbeschreibung“ beschreibt den organisatorischen Aufbau eines Unglücks.
Chronik der Gefühle (6/14) Verwilderte Selbstbehauptung
Der königlich-preußische Generalfeldmarschall Leberecht von Blücher wähnt sich nach einem Zusammenstoß mit Napoleons Armee mit einem Elefanten schwanger. Eine deutsche Front-Theatergruppe gelangt nach einer Odyssee durch Russland und Anatolien zurück ins ehemalige Reichsgebiet, wo sie niemand erwartet. Und der „Imaginäre Opernführer“ fragt nach den Opern, die nicht dokumentiert sind. In den 350 Jahren Operngeschichte entstanden etwa 80.000 Opern, aber nur 70 davon werden gespielt.
Chronik der Gefühle (7/14) Wie kann ich mich schützen? Was hält freiwillige Taten zusammen?
Kinder haben einen Traktor in Fahrt gesetzt. Die Eltern wollen retten. Vera F. gelingt es, den Jüngsten wegzustoßen. Sie wird selbst tödlich verletzt. In Gefahr und größter Not erscheinen mutige Taten, die ausschließlich um eines anderen willen geschehen, selbstverständlich. Im Alltag sind sie seltene Glücksmomente.
Chronik der Gefühle (8/14) Unheimlichkeit der Zeit. Bilder aus meiner Heimatstadt
Bruchstücke aus DDR-, Kriegs- und Vorkriegszeiten. Alexander Kluge hält Erinnerungen an seine Vorfahren fest. Er beschreibt seine Heimatstadt Halberstadt. Den Abschied vom Vater, der zur Zeit der Niederschrift von „Unheimlichkeit der Zeit“ im Sterben lag, beschreibt Kluge über den Zustand des Gartens: „Der Steingarten ist, vom Herbst her, mit Zweigen bedeckt, die nie mehr (von seinen Lebzeiten her gesehen) abgeräumt werden.“
Chronik der Gefühle (9/14) Unheimlichkeit der Zeit. Verschrottung durch Arbeit
Im bereits zerfallenden Dritten Reich wurde 1944 in der Nähe von Halberstadt das Konzentrationslager Langenstein-Zwieberge als Außenstelle des KZ Buchenwald eingerichtet. Neben einer Untertunnelung des Harzsandsteingebirges für Rüstungsproduktion wurde gezielt „Vernichtung durch Arbeit“ betrieben.
Chronik der Gefühle (10/14) Unheimlichkeit der Zeit. Der Luftangriff auf Halberstadt
Am 8. April 1945 wird Halberstadt durch alliierte Bomber fast vollständig zerstört. Zehn Meter neben dem 13-jährigen Alexander Kluge schlägt eine Sprengbombe ein. Seine dominierenden Gefühle in dieser Situation sind die Vorfreude, den Schulkameraden von der Bombe zu berichten und die Angst um die Scheidung der Eltern. Erst Mitte der Siebziger Jahre ist sein Abstand zu den Ereignissen groß genug, um davon zu erzählen. Seine Beschreibung stellt einen wichtigen Bezugspunkt in der Darstellung des Luftangriffs auf deutsche Städte und ihre Zivilbevölkerung dar.
Chronik der Gefühle (11/14) Massensterben in Venedig
Ein Mann vom Verfassungsschutz schießt einem Minister in die Backe um auf Sicherheitslücken aufmerksam zu machen, Altersheim-Bewohner werden in Venedig zu Geiselnehmern und liefern sich einen Showdown mit der Polizei, eine reiche Frau flieht vor dem Dritten Reich über Paris nach New York. In der Liebe findet sie kein Glück. Es geht um Einzelkämpfer und ihren „Hunger nach Sinn“. Wie entsteht Sinn? Laut Alexander Kluge nicht durch homogenisierte Nachrichten, sondern durch vermischte.
Chronik der Gefühle (12/14) Lebensläufe
In Alexander Kluges Erzählung „Anita G.“ stiehlt eine junge Frau einen Pullover und flieht durch die bürokratisch-spießig-neubürgerliche Bundesrepublik. Kluges Verfilmung des Stoffes – „Abschied von gestern“ – mit seiner Schwester Alexandra in der Hauptrolle, erhielt 1966 als erster deutscher Film nach dem Krieg den Silbernen Löwen in Venedig. Der Lebenslauf der Anita G. verläuft über die Bruchstelle von 1945. Geboren in Leipzig, in der Nazizeit als Jüdin vom Schulbesuch ausgeschlossen, die Eltern deportiert. Im Westen versucht sie mit aller Unbefangenheit ein neues Leben anzufangen, gerät aber immer wieder in Konflikt mit der jungen BRD.
Chronik der Gefühle (13/14) Lernprozesse mit tödlichem Ausgang
Der vielleicht humorvollste Zugang zu Alexander Kluges Katastrophen-Erzählungen. Wie kann der Schwarze Krieg vier Jahre dauern, wenn doch gleich am ersten Tag die Erde völlig zerstört wurde? Vier Veteranen aus Stalingrad, mehrfach gentechnisch erneuert, setzen sich in den Sektor Morgenröte ab, wo sie angesichts einer objektiv hoffnungslosen Lage auf bessere Zeiten warten. Die Ausbeutung sämtlicher Ressourcen und die Selbstzerstörung der Menschheit wird in fremden Galaxien noch einmal im Zeitraffer durchgespielt.
Chronik der Gefühle (14/14) Der lange Marsch des Urvertrauens
Aus der Anfangszeit des Kinos existiert eine Aufnahme von der öffentlichen elektrischen Hinrichtung eines Elefanten, der auf Coney Island drei Wärter getötet hatte. Dieser Stoff taucht bei Alexander Kluge immer wieder auf, als Erzählung, als Bild, als Film. Der für Kluge wichtigste Moment ist dabei der vertrauensvolle Blick des riesigen Tiers, das sich ruhig zu seiner Hinrichtung führen lässt. Marx nennt Ideologie das notwendige falsche Bewusstsein. Dazu gehört, dass wir Menschen als Säuglinge mit gläubigem Blick in die Wirklichkeit schauen und weil die Mutter zurückblickt, glauben wir, dass die Welt es gut mit uns meint. Das ist ein grundlegender Irrtum, von dem wir leben bis wir sterben. Unsere Welt meint es mit den Menschen nicht gut. Wir können diesen Irrtum aber nicht aufgeben. Freud nennt das das Urvertrauen.