Neu im Catch-up Service: Legendäre Fälle von Seenot


Prof. Dr. Ulrike Sprenger: Vom Papyrus Leningrad bis Lampedusa
Das älteste Epos, das sich mit Schiffbruch beschäftigt, stammt aus dem Ägypten der Mittleren Pharaonenzeit.  Weil es in Leningrad aufbewahrt wird, heißt es „Papyrus Leningrad“. Es geht um einen Schiffsführer, der von einer erfolglosen Fahrt zurückkehrt, fürchtet, dass der Pharao ihn umbringen wird und sich durch Erzählungen von abenteuerlichen Schiffsuntergängen trösten lässt. Die Stimmung ist skeptisch: „Wer gibt schon am Morgen einem Vogel zu trinken, den am Abend der Tod erwartet.“ Nichts ist sicher auf See.
Legendäre Fälle von Seenot finden sich gehäuft bei Auswandererschiffen und bei Schiffen, die feindliche Parteien transportieren und überfüllt sind. Die das Gefühl verstörenden Beispiele von Ertrinkenden vor Lampedusa sind noch nicht zu Ende erzählt.
Die Romanistin Ulrike Sprenger, Universität Konstanz, über legendäre Fälle von Seenot.
► Legendäre Fälle von Seenot (10vor11, Sendung vom 19.12.2016)


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► Schiffe im Nebel
Die Geschichte der Industrie, sagt der Soziologe Wolf Lepenies, beginnt optimistisch: Der Ingenieur vermag alles. Wenige Jahrzehnte später verbreitet sich Skepsis.
In seinem Buch MELANCHOLIE UND GESELLSCHAFT entwickelt Wolf Lepenies zwei Schlüsselmetaphern. Das Schiff, mit dem Werner von Siemens das Rote Meer bereist, liegt mit entsetzlicher Schlagseite; Werner von Siemens errichtet sogleich eine Art Labor, um den Neigungswinkel während des Schiffsuntergangs zu studieren. Das entspricht der optimistischen Tendenz.
Das zweite Beispiel zeigt französische Kriegsschiffe, die in den Nebel des Atlantiks festliegen. Die Schiffsingenieure zweifeln, daß ihnen in dieser Lage die Modernen, scheren Kaliber der Schiffsschütze irgend etwas nützen.
Schiffe im Nebel.
Ein Gespräch mit Wolf Lepenies, Verfasser des Buches MELANCHOLIE UND GESELLSCHAFT.


► Schiffbruch mit Zuschauer
Ursprünglich gelten Kontinente, die von Menschen nicht besiedelt werden – auch deren Klippen, an denen Schiffe scheitern – als Bild der Unsicherheit und als Monster. In der Moderne dagegen gilt das Meer und damit die Schiffe und der Schiffsbruch als Orte der Gefahr. Der Philosoph Hans Blumenberg gebraucht die Metapher des Schiffsbruchs, um den Weg der Menschheit in die Moderne zu beschreiben: Das Scheitern der Französischen Revolution, das Sich-in-Bewegung-setzen der Moderne und ihre rhythmischen Krisen vergleicht er mit einer Schiffsreise und einem permanenten Schiffsbruch. Wir, die Zuschauer, stehen dabei nicht etwa am Ufer. Wir erleben das Schiff und sein Zerbrechen als Mitfahrende und es kommt darauf an zu lernen, aus den Trümmern gescheiterter Schiffe ein neues Schiff zu bauen. Zumindest ein Floss.
In der Kunst ist die Grundmetapher hierfür das „Floss der Medusa“. Nach Napoleons Verbannung fährt ein französisches Kriegsschiff nach Senegal und scheitert durch Unerfahrenheit und Leichtfertigkeit des Kapitäns auf den Riffen vor der Küste. Der Kapitän (ein Royalist und Standesherr) reserviert die wenigen Rettungsboote für sich, seine Offiziere und die Seeleute. Für die mitgeführten Soldaten, die Frauen und Kinder, wird ein Floss gezimmert, das schon bei Betreten unter die Wasseroberfläche gerät. Von 150 Leuten werden, als das Floss endlich Hilfe findet, 15 gerettet. Das Bild von Théodore Géricault ging um die Welt. Das zerfetzte Segel ist noch in Bildern von Delacroix über die zweite Französische Revolution und in Bildern Eisensteins in „Panzerkreuzer Potemkin“ präsent.
Der Schiffbruch des Luxusdampfers Costa Concordia vor der Insel Giglio und das groteske Versagen ihres Kapitäns – ein moderner Schiffbruch 100 Jahre nach dem Untergang der Titanic, aber die Rettungsboote funktionieren immer noch nicht – wirft auf die Metapher von Hans Blumenberg ein grelles Licht.
Prof. Dr. Ulrike Sprenger, Romanistin an der Universität Konstanz berichtet.


► Schiffbruch der „Deutschland“
Während des Kirchenkampfes, den Bismarcks Preußen gegen den Katholizismus führten, wurden Nonnen zur Auswanderung veranlasst. Auf dem Segelschiff „Deutschland“ fuhren sie im Wintersturm nach England, um das Anschlußschiff in die U.S.A. zu erreichen. Das Schiff strandete auf einer Sandbank in der Themsemündung. Die Nonnen ertranken.
Der geniale englische Dichter Gerald Manley Hopkins, ein Jesuit, widmete dem Tod der Nonnen auf dem Schiff namens „Deutschland“ eine berühmt gewordene Ballade. Sie gehört zu den ersten Werken des Expressionismus. Sie schildert die Auseinandersetzung einer der Nonnen, die, an den Mast geklammert, mit den Elementen hadert und sich am Ende Gott anvertraut.
Der Benediktinerprior Pater Dr. Michael Wernicke berichtet über den Schiffbruch der Nonnen, die Ballade und die theologische Bedeutung von Schiffbrüchen in der Heiligen Schrift.


► Untergang der Titanic
In einer Werft in Belfast wurde vor 100 Jahren der Unglücksdampfer TITANIC gebaut. Zum Jahrestag, an dem das Schiff im Nordatlantik auf den eisigen Meeresgrund sank, las der Essayist und Dichter Hans Magnus Enzensberger auf einer Barkasse im Hafen von Belfast aus seinem Epos „Der Untergang der Titanic“, bestehend aus 33 Gesängen, die der Dichter provokativ „eine Komödie“ nennt.
Begegnung mit H.M. Enzensberger und seinem Werk als Beitrag zur Jahrhundertchronik 1912-2012.


► Schiffsuntergang mit Mann und Maus!
Im Jahr 1848 wird in Deutschland die bürgerliche Revolution niedergeschlagen. Zu Schiff verlassen Barrikadenkämpfer, schlesische Weber, Huren, Theoretiker und Geistliche Europa. Sie wollen in Amerika ein neues Leben beginnen.
Der Kapitän des Auswandererschiffes hat anstelle von Nahrungsmitteln und Wasser Rumfässer und Waffen geladen. In der Not proben Auswanderer und Schiffsbesatzung den Aufstand. Nach dem Untergang des Schiffes finden sich alle auf einem Floß wieder. Sie hoffen auf Rettung.
Frank Castorf, der schon Friedrich von Gagerns Erfolgsstück MARTERPFAHL inszenierte, führt die Regie dieses Dramas von mehr als 4 Stunden Dauer. Mit Max Hopp, Anna Ratte-Polle, Volker Spengler, Silvia Rieger. Mit viel Musik.
Ein Schiffsuntergang mit Mann und Maus ähnlich dem, der sich mit der TITANIC wiederholte.