Neu im Catch-up Service: Stalins Ingenieure


Prof. Dr. Schattenberg: Technik zwischen Utopie und Terror
Unter dem Zaren trugen russische Ingenieure Uniform. Sie arbeiteten am Aufbau der jungen Industrie Russlands und am Bau der sibirischen Eisenbahn. Sie waren aber als „Söldner der industriellen Armee“ von ihren Dienstherren abhängig und ihrer Gesinnung nach konservativ.
Für die Revolution nach 1917 war dieser traditionelle Stand der Ingenieure unentbehrlich. Ende der 20. Jahre aber im Verlauf des ersten Fünfjahresplanes der Sowjetunion wurden sie zum Ziel einer politischen Kampagne. In großen Schauprozessen wurden Ingenieure zu hohen Strafen und einige zum Tode verurteilt. Der Terror sollte diese für die Industrialisierung wesentliche Unterklasse antreiben. Die Prozesse machten sie zugleich zum Sündenbock für die Fehler der überstürzten Industrialisierung.
In die durch den Terror freiwerdende Positionen rückten junge, bereits in der Revolutionszeit ausgebildete Fachkräfte neu ein: dies sind die eigentlichen Ingineure Stalins. Sie werden in den Schauprozessen von 1936 und 1937 ebenfalls dezimiert. Ihr Idol und führender Repräsentant, der Volkskommissar Ordschonokidze, beging Selbstmord.
Ohne den verbleibenden Rumpf an Stalins Ingenieuren ist aber weder der Flugzeugbau noch die Schwerindustrie, weder das spätere Weltallprogramm noch der Sieg Russlands im Zweiten Weltkrieg zu erklären. Die Lebensläufe weiblicher und männlicher Ingenieure geben ein spannendes Spiegelbild der wechselhaften Geschichte der Sowjetunion und der Revolution von 1917, die im Jahr 2017 auf ihr 100jähriges Jubiläum zurückblicken wird.
Die Osteuropaforscherin Prof. Dr. Susanne Schattenberg, Universität Bremen, berichtet.
► Stalins Ingenieure (News & Stories, Sendung vom 08.11.2016)


Literaturempfehlung

stalins-ingeneureStalins Ingenieure
Der Ingenieur war der „neue Mensch“, der im Idealbild der Bolschewiki die Sowjetunion bevölkern sollte. Er sollte nicht nur das Land industrialisieren, sondern ein neues Leben und Arbeiten schaffen. Schattenberg widmet sich der ersten Generation sowjetischer Ingenieure, die ausgebildet wurde, um in den dreißiger Jahren das Land aufzubauen. Auf der Basis von Memoiren erforscht sie, in welchen Kategorien die Ingenieure selbst ihr Leben wahrnahmen. Stimmte es mit den Vorgaben der Propaganda überein? Wo waren die Abweichungen zu groß? Sie analysiert, warum sich die Sprösslinge der alten, verfolgten Elite genauso wie die Arbeiterkinder für die Industrialisierung begeisterten, welche Ansprüche sie an ihre Leben stellten und wie es ihnen schließlich gelang, den selbst erfahrenen Terror so zu verarbeiteten, dass sie weiterhin an „ihre“ Sowjetunion glauben konnten.


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► Russland 1917
russland1917Wie für einen Besuch bei einem Zahnarzt im Gesicht vermummt fuhr Lenin am Vorabend des Staatsstreichs, der seine Partei für mehr als 70 Jahre an die Macht brachte, mit der Straßenbahn zu seinem Hauptquartier. Die Machtübernahme verlief auch sonst anders als man sie sich vorstellt. Die Bilder vom Sturm auf das Winterpalais sind Jahre später aus einem „inszenierten Massentheater“ und durch Filme erzeugt worden. Diese Bilder überlagern auch die konkrete Erinnerung der Teilnehmer. Der Systemwechsel von 1917 erfolgte wenig spektakulär. Er löste aber, vor allem durch die Umverteilung des Bodens und somit auf dem Lande eine nachhaltige Umwälzung aus, die dann tatsächlich zu einem REVOLUTIONÄREN UMBRUCH wurde. Nicht die Ereignisse in St. Petersburg, sondern diese Wende in den Lebenswelten macht die Substanz der russischen Revolution aus. Alle diese Bereiche des Umbruchs: die radikale Beendigung des Kriegs, die Bodenverteilung, der Kampf gegen den Analphabetismus, die Elektrifizierung, das Medizinalwesen, der Konstruktivismus in der Kunst – alle diese revolutionären Fragmente – haben ihre eigene Geschichte.
Die Forschungen des Osteuropa-Historikers Helmut Altrichter zeigen, wie wenig die russische Revolution von 1917 einem Schema entspricht. Sie entsprach nicht einmal dem Bild, das sich die Revolutionäre selbst, ausgehend von dem Vorbild der Großen Französischen Revolution von 1789 und der Commune von 1871, von den Ereignissen machten. Nach fast 100 Jahren lohnt sich ein Blick auf die eine Rekonstruktion dieser Geschehnisse aus ihren authentischen Elementen. Prof. Dr. Helmut Altrichter von der Universität Erlangen, ein führender Osteuropa-Historiker, berichtet.


► Krieg auf dem Dach der Welt
dachIm 1. Weltkrieg versuchten Deutschland und die K.u.K.-Monarchie ihren Einfluss bis Persien, Afghanistan und Indien auszudehnen. Im Jahr 1917 wollten sie gerade dort eine Kriegsentscheidung erreichen. Der Süden Russlands und das „Dach der Welt“, also die Gebirge und Hochflächen Asiens, die von Turk-Völkern und anderen nicht-russischen Stämmen besiedelt waren, wurden zur Zone der Auseinandersetzung zwischen den Mittelmächten und Russland. Es waren Abenteurer, Offiziere, aber auch Geschäftsleute und Gelehrte, die sich an diesem Vorhaben „Wild-Ost“ beteiligten. Deutsche Banken und Unternehmen gründeten bereits Filialen und planten Eisenbahnlinien in jenem weit entfernten Gelände, das die Phantasie der Generalstäbler faszinierte.
Der Historiker Dr. Rudolf A. Mark, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, über das Projekt „Wild-Ost“ in den Jahren um 1917.


► Von Russland geliebt, von Stalin verboten
tangokoenigEr war der Leiseste der Konterrevolutionäre. Er argumentierte mit seiner Musik: Tango-König Pjotr Konstantinowitsch Leschtschenko. Die Tangos, meist aus dem Jahr 1935, blieben erhalten, weil sie auf ausgediente Röntgenplatten schwarz gepresst wurden – illegal. Die Härte des Materials garantiert für Qualität und Überlebensdauer. Die Tangos klingen anders als spanische und südamerikanische. Der eindringliche Rhythmus begleitet Liebestexte. Die Texte gehen aber auch darauf ein, dass sie in einer Zeit entstehen, in der es heißt: „Ach, wie mörderisch wir lieben“. Der Tango-König fiel bei Stalin rasch in Ungnade. Von der Bühne herab verhaftet, starb er 1954 in einem Lager.


► „Nicht mal ich bin Stalin“
stalin
Begegnung mit dem Historiker Dr. Jan Plamper.
Ein dynamisch in Entwicklung befindliches Gebiet der Geschichtswissenschaften ist die Emotionsgeschichte. Die Gefühle und ihre Benennungen, auch ihre Dominanzen, haben ein Eigenleben. Zorn, Autorität, Werte wechseln in jeder Generation ihre Bedeutung. Dies ist von großer Wichtigkeit, wenn man den Stalin-Kult und den Führer-Kult, also gesellschaftliche Artefakte der Propaganda, untersucht, in die – auch wenn diese Bilder künstlich hergestellt wurden und man den Mechanismus analysiert – gewaltige emotionale Bindungen der Menschen selber eingegangen sind.
Prof. Dr. Jan Plamper, Historiker an der University of London und Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, hat diese Zusammenhänge in seinem Buch über den Stalin-Kult dargestellt. Er vergleicht darin auch die andersgelagerten, aber ebenso aus politischer Absicht von oben und emotionaler Bindung von unten entstandenen Kulte um Adolf Hitler und den Duce Mussolini, wiederum bei genauer Betrachtung zwei höchst verschiedene gesellschaftliche Produkte.
Wer Stalin als Mensch tatsächlich war, ist nicht mehr festzustellen. Seine Taten, die Propagandamaschine und die mit der Stalin-Zeit verbundenen lebensgeschichtlichen Vorstellungen der Menschen haben den authentischen Mann vollständig überlagert. Er selbst hat offenbar diese Differenz gesehen. Als er einen seiner Söhne betrunken vorfindet und ihn zurechtweist, weil er sich bei seiner Festnahme auf den Namen Stalin berief, sagt der Diktator: „Nicht einmal ich bin Stalin“.