Rainer Werner Fassbinder zum 70. Geburtstag

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„Am Sonntag, den 31. Mai 2015, siebzig Jahre nach dem Kriegsende von 1945 wäre Rainer Werner Fassbinder siebzig Jahre alt geworden. Er ist kein Typ für diese Altersklasse. Hätte er sein Krisenjahr 1982 (und die sicherlich noch folgenden) überlebt und würde jetzt mit uns feiern, hätte er, vermute ich, soeben seinen 182. Film fertiggestellt. Diese Filme fehlen. Vor allem fehlt mir der Gefährte. Eines steht für mich fest: Sein Sarg war leer.“
(Alexander Kluge)
► Rainer Werner Fassbinder – Ein Porträt in Gesprächen und Filmausschnitten (11 Filme)


► „Ein Dschingis-Khan des deutschen Films“
dschinghis-fassbinder1982 starb Rainer Werner Fassbinder. Er hat 31 abendfüllende Filme hinterlassen, die den deutschen Film veränderten.
Der römische Schriftsteller Peter Berling hat, zum Teil aus eigener, unmittelbarer Kenntnis, die 13 Jahre beschrieben, in denen Fassbinder Filme herstellte.
In unserem Magazin geht es um die Anfänge Fassbinders 1969, das Jahr 1977, in dem der Film „Deutschland im Herbst“ entstand und das Todesjahr 1982, einschließlich der letzten dramatischen Tage.
„Ich bin das Glück der Erde“, sagte Fassbinder von sich. Er sagte aber auch: „Ich bin der Dschingis-Khan des deutschen Films“. Ohne seine Fuchtel war der deutsche Film nie wieder das, was er einmal war.



fassbinder-kluge„Ohne ihn ist es nicht mehr dasselbe
Daß Rainer Werner Fassbinder tot ist, weiß ich. Es heißt: ‚Ein Mann, der mit 36 Jahren stirbt, ist in jedem Zeitpunkt seines Lebens ein Mann, der mit 36 Jahren stirbt.‘ Entweder ist er also immer tot oder immer lebendig. Man kann es sich nicht aussuchen.“
(Alexander Kluge, Frankfurter Rundschau, 19. Juni 1982.)



► Fassbinders gesammelte Hinterlassenschaften
fassbinders-hinterlassenschaftenFilmtitel wie KATZELMACHER, HÄNDLER DER VIER JAHRESZEITEN, ANGST ESSEN SEELE AUF, LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD, DIE EHE DER MARIA BRAUN, BERLIN ALEXANDERPLATZ, QUERELLE (nach Jean Genet) haben den Ruhm von Rainer Werner Fassbinder begründet.
Es gibt aber auch unbekannte Projekte und hinterlassene Filme des früh verstorbenen Filmgenies.
Fassbinders Biograph Peter Berling, Rom, behauptet: Rainer Werner Fassbinder ist gut für Überraschungen.


Literaturempfehlung
Die 13 Jahre des Rainer Werner Fassbinder: Seine Filme, seine Freunde, seine Feinde

fassbinder-buch„Ein Buch, das weit mehr hält, als es verspricht. Nicht nur die 13 wilden Jahre des Rainer Werner Fassbinder werden hier beschrieben, sondern es ist dies ein Insider-Panorama des gesamten jungen deutschen Films. Mit schier unglaublicher Akribie ist hier ein Mosaikbild der deutschen Filmlandschaft jener Jahre zusammengetragen worden. Mit schonungsloser Offenheit und beißendem Sarkasmus geht Berling dabei zu Werke, aber nie fehlt die unterschwellige Liebe dessen, der sich dankbar bewusst ist, dabei gewesen zu sein. Bei Berling entsteht ein ganz neues Bild Fassbinders, ein bayerischer Bimsbrocken, der rücksichtslos alles und alle aufsaugt, benützt und quält und – liebt.“
(Mario Adorf)
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Alexander Kluge und Rainer Werner Fassbinder  (Copyright: Internationale Filmfestspiele Berlin)

Alexander Kluge und Rainer Werner Fassbinder (Copyright: Internationale Filmfestspiele Berlin)


mutter-fassbinder„Im Jahr 1978 verabredeten R. W. Fassbinder und ich, gemeinsam einen Film über die Scheidung unserer Eltern herzustellen. Fassbinder beschäftigte sich dann mit anderen Projekten, statt mit mir diesen Film anzufangen, auf den sich unsere Teams vorbereitet hatten. Er konnte sich nicht entschließen, die Rolle seiner Mutter in dem Ehekonflikt mit seiner wirklichen Mutter zu besetzen (die ja Schauspielerin war), hielt es aber für ebenso unmöglich, statt dessen eine Schauspielerin aus seinem Team mit der Rolle zu betrauen.“
(Alexander Kluge)



► Sein Sarg war leer – Rainer Werner Fassbinders zweites Leben
sarg-leer-fassbinderDas Buch der Lebensgefährtin von Rainer Werner Fassbinder, INGRID CAVEN, erregte großes Aufsehen und wurde in Frankreich mit dem höchsten Literaturpreis, dem Prix Goncourt, ausgezeichnet.
In diesem Buch ist bereits beschrieben, dass bei der Beerdigung des Filmgenies Fassbinders, das im Alter von 36 Jahren starb, der Sarg leer war. Jetzt berichtet der langjährige Freund und Produzent Fassbinders, warum dies so war.
Über rätselhafte Geschehnisse bei der Abnahme der Totenmaske Fassbinders und ebenso rätselhafte Berichte aus der Zeit nach dessen angeblichem Tod.


„Wenn man sich den Neuen deutschen Film allegorisch als Mensch imaginierte, so wäre Kluge sein Kopf, Herzog sein Wille, Wenders sein Auge, Schlöndorff seine Hände und Füße et tutti quanti dies und das; aber Fassbinder wäre sein Herz gewesen (nicht politisch oder als Punkt des Ausgleichs, sondern als Gravitationszentrum, in dem die jeweiligen künstlerischen Tendenzen sich schnitten).“
(Wolfram Schütte, Frankfurter Rundschau, 19. Juni 1982.)


► Fassbinders Begräbnis
begraebnis„Es wurden sämtliche seiner Lieblingslieder – ob das nun die Rolling Stones waren oder La Traviata – bei der Trauerfeier gespielt.“
Irm Hermann, langjährige Mitarbeiterin von Rainer Werner Fassbinder berichtet von der Beerdigung des großen deutschen Ausnahmeregisseurs.



Fünf Geschichten für Rainer Werner Fassbinder

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(Von Alexander Kluge)


Ein Versprechen

Wir lagen im Garten eines der Hotels am Lido in der Nachmittagssonne. Bis zur 19 Uhr-Vorstellung im Festivalpalast war nichts zu tun. Fassbinder fläzte sich im Gras. Syberberg erklärte seinen neuesten Film. „Zeit zum Verlieren“. Uns war langweilig. In dieser sonnensatten, ausgedehnten Stunde schworen R. W. F und ich einander, daß derjenige, der den anderen überlebt, dessen Arbeit fortsetzt. Notfalls solle er Geschichten über ihn dichten oder Filme fälschen. Insofern wäre der Gestorbene nicht ganz tot. Wir gaben uns, mit „braunbrennendem Körper“ (wird aber verbrannte Haut sein), feierlich und gegenseitig die urheberrechtliche Erlaubnis, aus dem Werk des anderen zu kopieren. Syberberg war Zeuge.


Von dem Weißstiftzeichen konnte er nichts wissen

Rainer Werner Fassbinders Beitrag zu Deutschland im Herbst, die zweite Episode des Films, hatte Überlänge. Beate Mainka-Jellinghaus markierte in der Arbeitskopie mit Weißstift die Stellen, an denen die Schnitte liegen sollten. Fassbinder erschien. Neben dem Schneidetisch bereitete er sich einige Linien von Schnee. So eingestimmt widmete er sich der Arbeitskopie. Und zwar zerriß er immer dort, wo er eine Kürzung akzeptierte, den Film. Die Kürzungen lagen exakt dort, wo sie von Beate Mainka-Jellinghaus eingezeichnet worden waren. Von den Weißstiftzeichen konnte er nichts wissen.


Rainer Werner Fassbinder, geboren im Mai 1945

Peter Berling, der Biograph Fassbinders, sein ehemaliger Produzent, der in Rom lebt, bemerkt, weil ja Fassbinder nur 37 Jahre alt wurde, daß für Genies, die nicht älter als 34 oder 35 Jahre werden (wie Mozart und Bellini), der gravitative Kern ihrer lebenslänglichen Phantasien in den fünf Jahren vor und den fünf Jahren nach ihrer Geburt liegt. Das, so dieser Biograph, kann sich auf Töne, erzählte Geschichten, Rhythmen, ja, alle Wahrnehmungen beziehen, die ein Kind aufzunehmen vermag, also auch auf Kleider, wehende Vorhänge oder die Blickrichtung der Mutter, und zwar nicht weil solche Kinder irgend etwas vom äußeren Weltgeschehen in dieser Zeit vor und nach ihrer Geburt selber erfahren hätten, sondern weil Tausende von Eindrücken in Stimme und Gesichtsausdruck ihrer Eltern sich übertragen haben: die unendliche Erzählung, welche die Jahre einer symbiotischen Beziehung begleitet.
Das Merkwürdige: Rainer Werner Fassbinder wurde seiner Mutter als Kind von vier Monaten weggenommen. Seinen Vater hat er ganz selten und später überhaupt nicht mehr gesehen. Es ist schiere Sehnsucht, Mangel an ursprünglicher Nähe zu den Eltern, die seine Filme so hellsichtig macht.


Engführung des Lebens

Das Leben Rainer Werner Fassbinders befand sich von März bis Juni 1982 in einer Engführung. In der Oper nennt man Engführung eine Stretta. Sie beendet Akte und bildet oft das Finale.
Die Annäherung zwischen Rainer Werner Fassbinder und Andy Warhol in New York war von gegenseitigem Vorteil. Deshalb war Warhol auch bereit, das Plakat zu Fassbinders Film Querelle zu entwerfen. Ein solches Plakat war einerseits autonomes Kunstwerk und kunstmarktfähig und zugleich ein passendes Werbemittel. Die Begegnung mit dem als „wild“ geltenden Fassbinder war für den älteren und ruhiger gewordenen Warhol, der keine Drogen mehr nahm, keinen Alkohol trank, in seinen Intimbeziehungen vorsichtig geworden war, ein wertvolles öffentliches Gut.
Den zivilistischen Warhol irritierten die Leinen-Breeches im militärischen Leopardenmuster, in denen Fassbinder ihn besuchte. Es war das Kostüm aus einem Film, in dem er eine Nebenrolle übernommen hatte, eine Zufallskleidung. Warhol bezog die Verkleidung auf sich selbst. Er sah eine große Verallgemeinerung darin, ein Vorurteil, eine Anspielung darauf, daß homoerotische Menschen sich auf gewisse Kampfkleidung oder Accessoires festlegen ließen, wenn doch ihr Unterscheidungsvermögen, die Nuancierungen, eher stärker ausgebildet waren als bei Heterosexuellen. So empfand er die Übertreibung der Oberschenkelmuskulatur (Reiterbeine) bei Breeches generell als unhöflich.
Fassbinder, noch schläfrig, redete nichts. Rasch verabschiedeten sie sich voneinander, ehe sie sich überhaupt begrüßten. Fassbinder saß dann für Stunden in einem Café und untersuchte die Strichjungen-Annoncen in einigen Fachblättern.
Nachträglich haben viele mit Einzelheiten die Engführung der Tage in New York und dann, am 31. Mai 1982, die triste Geburtstagszeremonie in der Deutschen Eiche gedeutet. In einem Stummfilm der zwanziger Jahre sieht man Wände, welche die Szene sukzessiv einengen. Zuletzt ist für den Menschen in diesem Raum kein Platz. Die Wände pressen auf die Szene. Die generöse sexuelle Praxis, auf die Fassbinder in den zehn Vorjahren angewiesen war, um es auszuhalten, geriet mit dem Einbruch von HIV an ein Ende. Im März 1982 war es noch Hörensagen, ein Jahr später wäre Fassbinder Opfer der Ansteckungswelle gewesen. Der Junge Deutsche Film, dadurch in Engführung, daß die Programmkinos im Zentrum der Großstädte in Folge der Mietpreisentwicklung liquidierten. Stärker noch in die Enge führend die Insolvenz seines Körpers. Valium, Vesparax, Captagon, die Droge, Wein, Bier – Bürgerkrieg in den Nerven. Fassbinder starb, ehe ihm die Stretta sein Ende setzte.


Tagesbericht 1 zum Parallel-Projekt: Krieg und Frieden (unverfilmt)

Für das Wochenende nach seinem Tode hatte Rainer Werner Fassbinder die Absicht, sein Teilstück zum Film Krieg und Frieden zu inszenieren. Was er vorhatte war in fünf Treffs besprochen. Da R. W. Fassbinder ungewöhnlich präzise arbeitet, konnte man diesen Filmteil, der das kollektive Projekt eröffnen sollte, vor dem geistigen Auge ablaufen lassen. In der Nacht, in der Fassbinder starb, habe ich die Anschlußsequenz an den Fassbinder-Teil zu Ende montiert. Dies sollte die Sequenz 2 werden. Ich war etwas nach 24 Uhr fertig.
Fassbinders Geschichte: Ein Mann und eine Frau, die Geschlechtsverkehr betreiben. Unerklärlich: eine idee fixe, die einen der beiden überfällt, verhindert, daß sie weitermachen. Aus der Unfähigkeit weiterzumachen entfaltet sich ein Streit. Dieser Streit führt für den Anderen zum tödlichen Ende.
Parallel zu dieser szenischen Erzählung wollte Fassbinder einen Dialog mit seiner Mutter einfügen. Da er dabei experimentell vorgehen muß, hat er kein Resultat angedeutet. Es ging ihm aber um eine Verletzung: Wieviel Zufälle und wie wenig Notwendigkeit gehörte zu jener Bindung, aus der er entstand. Was hatten die Eltern überhaupt miteinander zu tun? Wie umfassend müssen die Werke sein, an denen einer filmt und dichtet, um die Verknüpfungen nachträglich zu legen, die die wirklichen Eltern niemals verbanden. »Alle melodramatischen Gründe sind nachträglich.« (So ähnlich oder anders, ich habe ihn jedenfalls so verstanden).
Für beide Teilstücke seiner Sequenz hatte sich Fassbinder das erste Kapitel des Buches Vom Kriege von Clausewitz durchgelesen. Dieses erste Kapitel: Was ist der Krieg? handelt vom leidenschaftlichen Entbrennen, vom feindseligen Gefühl, von den drei Äußersten, von der logischen Träumerei, von der Unmöglichkeit eines einzigen Schlags ohne Dauer, von den höheren Graden der Leidenschaft, von der subjektiven Natur des Krieges, die nur dem Kartenspiel ähnelt, von der verschlagenen, unredlichen Klugheit des Krieges, von seinem Chamäleon-Charakter, vom Durchbruch des fremden Willens, von der »Gewalt, um den Gegner zur Erfüllung unseres Willens zu zwingen . . .« Es ist klar, daß R. W. Fassbinder so etwas in der Intimsphäre ins Spiel bringen wollte. Ich war überzeugt, daß die Sequenz wesentlich länger geworden wäre als die Fassbinder-Sequenz in Deutschland im Herbst (1977).



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