Zum Tod von Kenzaburō Ōe

Porträt des japanischen Nobelpreisträgers Kenzaburō Ōe auf Glasfolie. Druck von Filmstill auf Aluminium. 84×48 cm (2020).

In diesem März ist mit 88 Jahren der japanische Nobelpreisträger Kenzaburō Ōe verstorben. Mein Freund und Gefährte. Lange Zeit war er Fellow im Wissenschaftskolleg zu Berlin. In dieser Zeit und zu anderen Zeiten sind mit ihm die folgenden fünf Kulturmagazine entstanden. Der Tod dieses großen Poeten und Meisters des „grotesken Realismus“ bewegt mich stark.

Alexander Kluge


►“Ich bin der Mann des grotesken Realismus“

Als er 1994 aus Stockholm den Anruf erhielt, ob er den Nobelpreis annehme, war sein hirngeschädigter Sohn am Telefon und antwortete: Nein, danke. In dem Buch, an der er gerade schreibt, geht es um einen Sektenführer in Japan (ein Sektenführer war für die U-Bahn-Giftattentate verantwortlich). Er erkannte sich in einem anderen Menschen wieder und es ist nicht sicher, ob die verschiedenen Individualisten, sagt Kenzaburo Ōe, nicht durch unterirdische Flüsse miteinander verbunden sind. Verknüpft ist auch die Realität mit dem Antirealismus des Gefühls. Ich könnte, sagt Ōe, vor Verzweiflung oder vor Lachen sterben. In seiner Erzählung DER STOLZ DER TOTEN (man kann auch übersetzen: „Schamlosigkeit, Üppigkeit, Luxus, Macht der Toten“, die japanischen Schriftzeichen sind vieldeutig) geht es um einen Studenten und eine Studentin, die in der Anatomie Leichen in verschiedene Becken sortieren. Der „groteske Realismus“, für den Ōe ausdrücklich den Nobel-Preis erhielt, kommt zustande, weil Ōe die Risse im Gebälk der Wirklichkeit niemals zukittet. Mao Zedong und Sartre hat Ōe persönlich gekannt. Ein Gespräch von ungewöhnlichem Unterhaltungswert.


► „Japans schwarzes Schaf“

Manfred Osten, der Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung, Japankenner und Autor, hat den Nobelpreisträger für Literatur Kenzaburō Ōe in dessen Haus besucht. Dieser ungewöhnliche, japanische Schriftsteller gilt in seinem Land als „schwarzes Schaf“. Der Dichter betreibt rücksichtslose Aufrichtigkeit, Authentizität und radikale Tonlagen, wie sie sich bei Dostojewski finden, in einem Land, in dem diese europäischen Ideen nicht gelten.

Kenzaburō Ōe hatte ein erschütterndes Erlebnis. Die Geburt eines debilen Sohnes stellte ihn vor eine extreme persönliche Herausforderung. Er hat diese Erfahrung in seinem Roman „Eine persönliche Erfahrung“ beschrieben. Den Nobelpreis erhielt er für sein Gesamtwerk, darunter ein Familienroman. Die Jury hatte, sagt Manfred Osten, wahrscheinlich diesen missglückten Roman im Sinn und nicht den genialen, aber radikalen Wurf „Eine persönliche Erfahrung“. Es war der richtige Preis für den rechten Mann, sagt Manfred Osten, aber für das falsche Werk …


► „Wie viel Unglück verträgt ein Mensch?“

Eine der großen Erzählungen des Nobelpreisträgers für Literatur Kenzaburō Ōe heißt: VERWANDTE DES LEBENS. Es geht um eine junge Frau, deren Mann zum Alkoholiker wird. Ihr erstes Kind ist geistig behindert. Das zweite wird von einem Lastwagen angefahren und schwer verletzt. Diese beiden Kinder begehen gemeinsam Selbstmord. Wie viel Unglück verträgt der Mensch? Kenzaburō Ōe beschreibt in allen seinen Texten solche Hiobs-Schicksale. Er tut das aber mit einem beharrlichen Sinn für Komik und grotesken Realismus.

Es geht um eine Geschichte von Menschen, „die die Zukunft lieben wie eine Geliebte“. Was erhofft sich der Nobelpreisträger vom 21. Jahrhundert? Was macht ihn hoffnungsfroh? Woran schreibt er neuerdings?

Ein Europäer aus Japan. Eine spannende und informative Begegnung mit dem Nobelpreisträger aus Japan.


►“Ich spreche mit einem Toten“

In dem Roman „Tagame, Berlin-Tokyo“ geht es um den plötzlichen Tod seines Freundes und Schwagers, einer Natur von „jugendlicher Unerschrockenheit“. Kenzaburō Ōe war mit ihm schon in der Jugendzeit befreundet. Dieser Freund, der später Ōes Schwester heiratete, hatte in einem Film sich mit den Yakuza angelegt. Er wurde von diesen überfallen und verletzt. Sein Sturz von einem Hochhaus in den Abgrund war für Ōe so abrupt, dass er von seinem Aufenthalt am Wissenschaftskolleg zu Berlin aus einen „inneren Dialog“ mit seinem Freund und Schwager aufnimmt. Dieser hat ihm Tonbänder in einem Kassettenrekorder, den er „Schildkäfer“ nennt, hinterlassen. So entsteht eine Verbindung zwischen der Welt der Lebendigen und der der Toten. „Wir leben nämlich“, sagt Kenzaburō Ōe, „in einem Parallel-Universum“. Wirklich sind nur die mehreren Welten gemeinsam. Begegnung mit dem Nobelpreisträger für Literatur, Kenzaburō Ōe.


►“Hoffnung ist wie ein Kind“

Der Tod seines Schwagers und besten Freundes und das Schicksal seines Sohnes, der geistig behindert geboren wurde und heute Musik komponiert, bilden ein Zentrum im neuesten Werk des japanischen Nobelpreisträgers für Literatur Kenzaburō Ōe. In dem Gespräch geht es um die Indirektheit aller menschlichen Erfahrung, um Hoffnung, verlorene „Schätze“ der Menschheit und Worte wie „Liebe“, „Gott“ und „Embryo“. Die besondere Chance eines neuen Menschen und neuen Hoffnungsträgers liegt nicht in angeblichen Stärken, sondern in der Zerrissenheit der menschlichen Natur, sagt Kenzaburō Ōe. Hoffnung entsteht immer an unwahrscheinlicher Stelle. Kenzaburō Ōe hält den großen Text, an dem er derzeit schreibt, für sein letztes Werk.