„Ich bin eine Leseratte!“ Gastkommentar von Alexander Kluge in der NZZ

Alexander Kluge, NZZ, 28.10.2019

„Ich bin eine Leseratte!“
Zum Lesen gehört auch das Ausgraben, das Tieferschürfen. Etwas in uns Menschen arbeitet stets über das soeben Gelesene spontan hinaus.

Beim Lesen kann man extrem auseinander Liegendes nebeneinanderstellen. Das ist eine besondere Form der Intelligenz. Es gibt diese Intelligenz der Lateralisierung im blossen Tun, in der Rage, im Kampf, in der Liebe, im Geschäftsleben, in der Vita activa eher selten. Texte von Ovid, also von vor 2000 Jahren, stehen neben Texten von Ossip Mandelstam im 20. Jahrhundert, am gleichen Schwarzen Meer in der Verbannung geschrieben. Ja, die Metamorphosen und Disruptionen unserer Gegenwart finden sich beim Lesen dicht neben denen, von denen der grosse antike Dichter schreibt.
 
Ich schreibe hier für die «Neue Zürcher Zeitung», sie wurde im Januar 1780 begründet. Meine Film-Mitarbeiter und ich haben im Jahr 2012 einmal den Versuch gemacht, aus Meldungen dieser Zeitung, die sich auf einen einzelnen Monat des Jahres 1912 bezogen, eine Hörfunksendung von sechs Stunden Länge zu machen. Hier zeigt sich etwas, was für die Lesekultur charakteristisch ist: In der «Neuen Zürcher Zeitung» gab es die Gewohnheit, die dem Blatt eines neutralen Landes gut ansteht, die Nachrichten aller Parteien, bis hin zur Propaganda, zu den Lügen, mit denen sich gegnerische Parteien beschiessen, nebeneinander zu drucken. Das gibt einen kaleidoskopischen Blick. Wenn man Nachrichten aus dem Jahr 1912 oder 1943 so miteinander konfrontiert, entsteht ein erzählerischer Zugang zu komplexer Wirklichkeit. Gute Nachrichten, dicht neben Irrtümern und Unwahrheiten, ergeben ein lesbares Gewebe, eine Textur.

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Leseratte► Ich bin eine Leseratte
Manche sagen, das Zeitalter der Bücher sei vorüber. Das stimmt, antwortet die Leseratte Walter Wöhler (Helge Schneider), aber damit hört die Leselust nicht auf. Wöhlers Tagesration an Lesestoff liegt bei 9.900 Seiten Text. Wöhler ist ein Leser von altem Schrot und Korn. Bilder kann er nicht leiden. Helge Schneider als Leseratte.
 
 


Urwald► Im Urwald, wo die wilden Wörter wohnen
Ann Cotten, geboren in Iowa/USA, lebt in Wien und Berlin. Der Vers: „Im Urwald, wo die wilden Wörter wohnen, befand ich mich als ich das Einhorn ritt“, stammt aus ihrem ersten Gedichtband „Fremdwörterbuchsonnette“, ein Werk, mit dem sie sich als Lyrikerin bereits an die Spitze setzte. Sie erhielt den Hugo-Ball-Preis (genannt nach dem berühmten Dadaisten), den Klopstock-Preis und viele andere Auszeichnungen.
Wie geht eine moderne Lyrikerin mit dem Netz um? Woran erkennen sich Lyriker untereinander? Wie viele Dichter braucht eine Gesellschaft? Lyrische Dichtung, wie sie auch das Werk von Elfriede Mayröcker enthält, gibt heute der Sprache die größte Freiheit, fern vom Sinnzwang, den die Medien oder die Dramatik des Sprechtheaters ausüben. Die heutige Öffentlichkeit, die gegenüber der klassischen Öffentlichkeit starke Verfallserscheinungen aufweist und doch zu schwach ist, eine selbstbewusste neue Öffentlichkeit des 21. Jahrhunderts oder gar Gegenöffentlichkeiten zu gründen, braucht die Ausdrucksstärke, die in der Sprache steckt, wenn man die rebellischen Wörter loslässt. Umgekehrt: „Sinnzwang stört die Melodie der Sprache und damit auch deren praktischen Sinn.“
Begegnung mit der Lyrikerin Ann Cotten.


Mensch Schrift► Bevor der Mensch die Schrift erfand
Die frühesten Spuren unserer Vorfahren, die die Prähistoriker und Archäologen fanden, stammen aus der Zeit vor 7 Millionen Jahren. Eine gewaltige Zeitspanne reicht bis zur Erfindung der Schrift in den frühen Hochzivilisationen am Nil, in Mesopotamien, am Indus und in China. Wir aktuellen Menschen tragen diese Geschichte in uns. Wir sind "Kinder des Prometheus". Auch wenn es sich um eine für uns schwer vorstellbare Zeitspanne handelt, findet die Entwicklung in markanten Sprüngen statt. Einer dieser Sprünge ist gekennzeichnet durch die Erfindung des Feuers. Unsere Vorfahren konnten dadurch nicht nur Speisen für den Magen verträglicher machen, also kochen, sie durch Räuchern haltbar machen, sondern das Feuer erleuchtet erstmals die Nächte, um das Feuer herum beginnt das Erzählen. Die Höhlenmalereien werden später zu ersten Schüben der Hochkunst. Die frühen Menschen gehen dazu über ihre Toten zu begraben, beschäftigen sich mit dem Jenseits. Es entstehen Versammlungsplätze für Ritualfeste. Kooperation und Gruppenbildung sind Errungenschaften, die später Sesshaftigkeit und kulturelle Komplexität nach sich ziehen. Erste Maschinen wie die Speerschleuder, kooperative Jagdpraktiken, Domestizierung von Tieren, z.B. des Ur-Hunds, der Schafe und des Rinds bilden Stationen. Im gesamten Zeitraum ist die Entwicklung des Homo Sapiens, von dem wir abstammen, und der wiederum vom Homo Erectus sich ableitet, charakterisiert durch eine enge Verbindung zwischen Hand und Gehirn. Der aufrechte Gang setzte die Hände frei. Sie sind künftig dazu da, sich im Fluchtfall zärtlich in die Mutter einzukrallen, sie werden zur Arbeit tauglich: die Fingerspitzen sind so individuell wie das, was in den Köpfen der Menschen sich abspielt. In der Sage vom Prometheus und dessen schusseligen Bruder Epimetheus berichten die Mythen davon, dass alle Tiere und Naturwesen spezielle Eigenschaften erhielten. Nur der Mensch wurde vergessen. Er wird geboren als Mängelwesen, ohne Raubtiergebiss, nackt und für den Überlebenskampf weniger geeignet als viele andere Tiere. Aus diesem Mangel heraus entwickelten sich seine Eigenschaften. Sie sind reich. Die Anker dieser Errungenschaften liegen weit zurück in den Zeiten, in denen es noch keine Schrift und somit keine Chroniken gab. Prof. Dr. Hermann Parzinger hat in seinem Buch DIE KINDER DES PROMETHEUS diese lange Periode der menschlichen Evolution auf etwa 900 Seiten beschrieben. Ein Standardwerk. Hermann Parzinger ist zugleich Chef der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, einer Behörde von 2.000 Mitarbeitern, die u.a. für das künftige Humboldt-Forum in der Mitte Berlins verantwortlich sein wird. Begegnung mit Hermann Parzinger, aber auch der fesselnden Geschichte unserer unmittelbaren Vorfahren.


Poesie Recht► Von der Poesie im Recht
Recht und Dichtkunst liegen für das heutige Verständnis weit auseinander. Bei Jakob Grimm, gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm bekannt als Sammler von Märchen, aber auch als Autorität für die deutsche Sprache, und noch bei dem großen Juristen und Universitätsgründer Friedrich Carl von Savigny geht es um die gemeinsame Wurzel: ein Volk täuscht sich nicht über das Poetische und auch nicht über sein Rechtsempfinden. Für die moderne Juristenausbildung macht es einen großen Unterschied, ob an solche gemeinsamen Wurzeln angeknüpft oder ob bloß Fachjuristen und Gesetzesausleger herangebildet werden. Prof. Dr. jur. Dr. phil. Stefan Grundmann, Institut für Banken- und Marktrecht der Humboldt-Universität Berlin und Mitbegründer eines Projekts für Advanced Studies in der europäischen Juristenausbildung, setzt die Gedanken von Jakob Grimm und Savigny in Zusammenhang mit der Betrachtungsweise von Adam Smith und Max Weber, den großen Ökonomen, die ebenfalls das Recht noch im Gesamtzusammenhang einer umfassenden Gesellschaftstheorie sehen.


Stendhals Paradox► Stendhals Paradox
Der Nachschub-Offizier und Schriftsteller Stendhal hat die Feldzüge Napoleons begleitet. In der Schlacht von Bautzen beobachtete er das Paradox, dass gerade derjenige, der an einer Schlacht unmittelbar teilnimmt, am wenigsten von ihr sieht. So etwas passiert auch dem jugendlichen Helden in Stendhals Roman DIE KARTAUSE VON PARMA. Die Romanistin Prof. Dr. Ulrike Sprenger, Universität Konstanz, über Henri Beyle, der sich Stendhal nannte. In den Romanen Stendhals geht es um die vielen eigenartigen Facetten des bürgerlichen Charakters.