Hermann Parzinger: Der lange Marsch aus der Urzeit ins 21. Jahrhundert
Hermann Parzinger ist Archäologe und Frühhistoriker. Zugleich ist er Chef der machtvollen Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK), bei der ein großer Teil der Verantwortung für das Projekt Humboldt-Forum im Berliner Schloss liegt, das sich mit der Geschichte der Menschheit befasst. Parzinger selbst schrieb mit seinem Buch DIE KINDER DES PROMETHEUS das Standardwerk für die Geschichte der Menschheit vor Erfindung der Schrift. In diesen langen Zeiten bis etwa 10.000 Jahre vor unserer Zeitrechnung entstanden wesentliche menschliche Eigenschaften, und zwar in tausendjährigen Rhythmen. Sie sind es, die in unserer digitalen Welt die Anker bilden: menschliche Intelligenz, Erfahrung, Intuition.
Die künstliche und digitale Intelligenz beruht auf den Gesetzen der Informatik. Das sind andere Grundlagen als die, aus denen sich menschliche Erfahrung und unser Handeln zusammensetzen. Auch unsere Intelligenz, Erfahrung und Intuition setzt sich zusammen aus Elementen, die jedes eine eigene Vorgeschichte haben. So wurde das Nähen einige 100 Male erfunden und wieder vergessen. Als es endlich zu einer Erfahrung wurde, Pelze zur vollen Bekleidung des Körpers zusammenzunähen und dafür den Faden durch das Nadelöhr zu fädeln, verwandelte eine solche „Erfindung“ auch die Intelligenz im übrigen Kopf. Aus Nähen wird Sprache („Grammatik als Nadelöhr“). Und aus dieser Logik. Nach wie vor stehen dabei die Intuition und die „Einfühlung“ der Logik gegenüber (und vermutlich sind sie ihr inneres Motiv).
André Heinke, Director Future Research and Technology Strategy (CR/FUR) in der Firma Bosch und Alexander Kluge befragen Hermann Parzinger in dessen Amtssitz in Berlin.
► Intelligenz, Erfahrung, Intuition (10 vor 11, Sendung vom 23.04.2018)
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► Bevor der Mensch die Schrift erfand
Die frühesten Spuren unserer Vorfahren, die die Prähistoriker und Archäologen fanden, stammen aus der Zeit vor 7 Millionen Jahren. Eine gewaltige Zeitspanne reicht bis zur Erfindung der Schrift in den frühen Hochzivilisationen am Nil, in Mesopotamien, am Indus und in China. Wir aktuellen Menschen tragen diese Geschichte in uns. Wir sind „Kinder des Prometheus“. Auch wenn es sich um eine für uns schwer vorstellbare Zeitspanne handelt, findet die Entwicklung in markanten Sprüngen statt.
Einer dieser Sprünge ist gekennzeichnet durch die Erfindung des Feuers. Unsere Vorfahren konnten dadurch nicht nur Speisen für den Magen verträglicher machen, also kochen, sie durch Räuchern haltbar machen, sondern das Feuer erleuchtet erstmals die Nächte, um das Feuer herum beginnt das Erzählen. Die Höhlenmalereien werden später zu ersten Schüben der Hochkunst.
Die frühen Menschen gehen dazu über ihre Toten zu begraben, beschäftigen sich mit dem Jenseits. Es entstehen Versammlungsplätze für Ritualfeste. Kooperation und Gruppenbildung sind Errungenschaften, die später Sesshaftigkeit und kulturelle Komplexität nach sich ziehen. Erste Maschinen wie die Speerschleuder, kooperative Jagdpraktiken, Domestizierung von Tieren, z.B. des Ur-Hunds, der Schafe und des Rinds bilden Stationen.
Im gesamten Zeitraum ist die Entwicklung des Homo Sapiens, von dem wir abstammen, und der wiederum vom Homo Erectus sich ableitet, charakterisiert durch eine enge Verbindung zwischen Hand und Gehirn. Der aufrechte Gang setzte die Hände frei. Sie sind künftig dazu da, sich im Fluchtfall zärtlich in die Mutter einzukrallen, sie werden zur Arbeit tauglich: die Fingerspitzen sind so individuell wie das, was in den Köpfen der Menschen sich abspielt.
In der Sage vom Prometheus und dessen schusseligen Bruder Epimetheus berichten die Mythen davon, dass alle Tiere und Naturwesen spezielle Eigenschaften erhielten. Nur der Mensch wurde vergessen. Er wird geboren als Mängelwesen, ohne Raubtiergebiss, nackt und für den Überlebenskampf weniger geeignet als viele andere Tiere. Aus diesem Mangel heraus entwickelten sich seine Eigenschaften. Sie sind reich. Die Anker dieser Errungenschaften liegen weit zurück in den Zeiten, in denen es noch keine Schrift und somit keine Chroniken gab.
Prof. Dr. Hermann Parzinger hat in seinem Buch DIE KINDER DES PROMETHEUS diese lange Periode der menschlichen Evolution auf etwa 900 Seiten beschrieben. Ein Standardwerk. Hermann Parzinger ist zugleich Chef der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, einer Behörde von 2.000 Mitarbeitern, die u.a. für das künftige Humboldt-Forum in der Mitte Berlins verantwortlich sein wird.
Begegnung mit Herrmann Parzinger, aber auch der fesselnden Geschichte unserer unmittelbaren Vorfahren.
► Evolutionäre Robotik
Intelligenz ist ein Bestandteil des Lebens und verhält sich dynamisch. Auch Roboter, die künstlichen Intelligenzler, lernen spontan. Voraussetzung für die Betätigung von Intelligenz sind Körper. Die im Institut von Prof. Dr. Frank Pasemann entwickelten Humanoiden lernen so, wie die Tiere in der Evolution „lernten“: durch Selbsttätigkeit, Versuch und Irrtum, also, indem sie Erfahrungen machen. Diese Forschungsmethode unterscheidet sich grundlegend von dem bloßen Konstruieren. Prof. Pasemann nennt seine Geschöpfe daher auch nicht Automaten, sondern Animaten (anima = Seele, Tier). Begegnung mit Frank Pasemann und seinen Animaten.
► Begehbare Geschichte
In den großen Berliner Museen (zu denen künftig noch das Humboldt-Forum im Schloss hinzutreten wird) kann der interessierte Zuschauer zwischen den großen Perioden der Menschheitsentwicklung hin- und hergehen und so „begehbare Geschichte“ erleben. Der Prähistoriker Prof. Dr. Herman Parzinger ist Chef der Stiftung Preussischer Kulturbesitz, zu der die Mehrzahl dieser Museen gehört. Aus seiner wissenschaftlichen Erfahrung über die Wanderungen der Menschen in der Frühzeit und aus der Übersicht über die Ausstellungen und Museen Berlins und in der Welt beschreibt er die Stationen, in denen die Menschheit sich, seit sie in Afrika den Vulkankatastrophen in der Zeit von vor 70 000 Jahren vor Christus entkam, über den Globus bewegte bis ins 21. Jahrhundert hinein. Ein faszinierender Marsch.
Wir haben mehr mit unseren Vorfahren zu tun, als wir meinen. Die Vorzeiten sind in gewisser Hinsicht sämtlich auch Jetztzeit.
Begegnung mit Hermann Parzinger.
► Mathematik der sinnlichen Kraft
Man spricht von den fünf Sinnen eines Menschen. Tatsächlich sind es viel mehr sinnliche Kräfte an der Arbeit, wenn wir uns bewegen, das Gleichgewicht halten und unsere Lebendigkeit ausüben.
Die Evolution zeigt sich als eine Wunderkammer verblüffender Kooperationen zwischen den sinnlichen Fähigkeiten der Lebewesen. Der Wüstenskorpion ist z. B. ein sinnlicher Mathematiker seiner Sinneskräfte. Im trocknen Sand, der sich in der Wüste wie eine Wasserfläche verhält, referieren winzige Härchen an den acht Beinen des Tiers den genauen Ort und den Weg einer Beute. Über vier Lebensjahre verfügt dieser Skorpion. Als Nahrung braucht er pro Jahr eine fette Motte. Also viermal Beutemachen im Leben. Dafür besitzt das blinde Tier staunenswerte Präzisionswerkzeuge der Ortung.
Ganz anders die Schleier-Eule. Die Ernährung ihrer Jungen und des Weibchens fordert von dem nächtlich jagenden männlichen Tier, dass es alle zehn Minuten eine Maus fängt und zum Nest bringt. Die Koordination des Ohrs der Schleier-Eule weist dafür eine extrem genaue Winkelgenauigkeit auf. Es ist merkwürdig, dass diese Treffsicherheit des Ohrs auch zu den Eigenschaften von uns Menschen gehört.
Für Krokodile und Vögel wäre der Abstand zwischen den Ohren zur genauen Orientierung im Raum unzureichend. Die Natur hat bei ihnen daher eine Direktkommunikation der Ohren durch einen Tunnel oder „Konzertsaal“ im Kopf erfunden.
Der Bio-Physiker Prof. Dr. Leo van Hemmen untersucht die feinabgestimmte biologische Basis in der die Neuronen in extrem kurzer Zeit und mikrostrukturell im Gehirn diese Mathematik der sinnlichen Kraft ausüben. Die sinnlichen Kräfte erweisen sich in ihrer Praxis als erfahrene Mathematiker.
Wir Menschen in der Zivilisation machen von unseren sinnlichen Fähigkeiten nur teilweise Gebrauch. Was wir dabei nicht verlernt haben ist das Lernen selbst: Die Plastizität des Gehirns. Fahrradfahren oder Schwimmen lernen bleiben hochkomplexe, kooperative Aktionen zwischen den Sinnen. Das Belohnungssystem beim Lernen liegt, sagt Leo van Hemmen, darin, dass die Sinne von sich aus ein Vergnügen daran haben, zusammenzuwirken: Wenn ihnen etwas Ganzes gelingt. Die Belohnungen, die wir verstehen, und die tatsächlichen (offenbar auf anderer Ebene ebenfalls lustvollen) Vorgänge auf der Mikroebene zwischen den Neuronen und Synapsen sind dabei zwei verschiedene Welten.
Alles dies wird biophysikalisch durch einen imposanten Aufwand an Mathematik regiert, von dem unser Verstand nur wenig wahrnimmt.
Begegnung mit dem Bio-Physiker Leo van Hemmen.
► Die Ahnengalerie der Zukunft
Versteckt in den Wäldern Vermonts lebt Bina; die echte Bina und ihr Nachbau, eine hörende und sprechende täuschend echte Roboterbüste. Das Motto ihrer Betreiber: Gott ist technologisch, Sterben ist optional. Die technologisch-religiöse Stiftung bietet jedermann gratis an, sich auf ihrer Webseite mit einem Charakterprofil zu verewigen und eine Gewebeprobe einzusenden, damit diese für die Zukunft eingefroren werden kann
► Roboter
Kognitive Robotik konkurriert und kooperiert mit der menschlichen Intelligenz. Moderne robotische Instrumente sind von besonderer Bedeutung in der Krebsdiagnostik und in der Chirurgie: differenzierte und wirksame Prothesen des menschlichen Fingerspitzengefühls und der ärztlichen Erfahrung. Zunehmend entsteht heute eine Symbiose zwischen künstlicher und natürlicher Intelligenz.
Prof. Dr. Sir Brady, Universität Oxford, ist sowohl Experte auf dem Gebiet der Robotik wie auf dem Gebiet der Onkologie.