Ben Lerner, New York: Das Authentische – Das Echte – Das, was fliegen kann
Zu den modernsten Dichtern der U.S.A. gehört der New Yorker Ben Lerner. In seinem provozierenden Manifest „I hate poetry“ trennt er in einem Rundumschlag auf neue Art Kitsch von dem, was Dichtung wertvoll macht. Er geht aus vom „schlechtesten Gedicht der Welt“, geschrieben von William McGonagall über den Einsturz der Tay-Brücke in Schottland gibt einen Überblick über alles, was man in der Lyrik nicht machen soll und kommt zu dem Resultat: „Ich kann Dichtung nicht abschätzig betrachten, denn am Ende entdeckt man in ihr den Ort für das Authentische“.
Man nennt die ernsthafteste Auseinandersetzung mit Gott „negative Theologie“. Einem Scholastiker wie Maimonides geht es vor allem darum, was man von Gott nicht wissen kann. Das ist der Ausdruck des Respekts. Ähnlich gibt es, sagt Ben Lerner, die „negative Lyrik“ – sie vermeidet jede Phrase und weiß, dass auch das beste Gedicht, die Wurzel für die es geschrieben ist, nicht fassen kann. „Ich bin Patriot der Dichtkunst“, stellt Ben Lerner fest, „weil Plato so vehement dagegen ist“. Plato nämlich glaubt, dass Musik und das Poetische verweichlichen. Man soll nur auf den harten Verstand vertrauen. Das wiederum glaubt Ben Lerner, der Praktiker des Poetischen, überhaupt nicht.
Begegnung mit Ben Lerner aus Anlass einer Ausstellung im Palazzo Ca‘ Corner della Regina in Venedig.
► Ein Gedicht hat kein Dach (10 vor 11, Sendung vom 13.11.2017)
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► Hallo, hier ist das Krokodil
n der Zeit des Umbruchs nach 1917 in Russland richtete sich die Hoffnung auf die neue Generation der Kinder. Es erwies sich als schwer, die Erwachsenen in ihrer Masse für die neue Zeit zu gewinnen. Sie waren in der alten Zeit groß geworden, im Bürgerkrieg oft entwurzelt, viele waren Analphabeten. So glaubte man, den neuen Menschen von Grund auf bei den Kindern heranbilden zu können. „Von dem, was Künste und Poetik geben können, ist das Beste gut genug für die Kinder!“
Es entstand eine „revolutionäre Schatzkammer von Kinderbüchern“. Künstler und Poeten wie Daniil Charms, Majakowki, El Lisitzky, Tatlin, Marschak und Ossip Mandelstam schufen Kinderbücher oder beteiligten sich daran. Die Tradition russischer Kinderbücher hat Verbindung zu angelsächsischen Quellen wie „Mother Goose annotated“. Eines der beliebtesten Kindergedichte heißt „Telefon“ und stammt von der Leitfigur russischer Kinderliteratur Kornei Tschukowski. Ein Genosse schläft. Neben seinem Bett, sehr modern und elektrifiziert, steht das Telefon. Es ruft an: der Elefant aus Afrika. Gleich der nächste Anruf kommt vom Krokodil: „Ja, das vom Nil“. Das geht über panikanfällige Gazellen, über Affen („Ihr schickt uns Taschentücher, wir wollen Bücher, wir haben nichts zu lesen!“) bis zu einem traurigen Bären („Da telefonierte der Bär. Warum bist du so traurig, mein lieber Bär?
Da sagte er gar nichts mehr / Er war zu bewegt / Und hat aufgelegt“).
Die Slawistin Dr. Marinelli-König, Akademie der Wissenschaften Wien, über Kinderbücher in der russischen Revolutionsära von 1920 bis 1930.
► Der Autor als Anwalt der Zukunft
Das Genre des kommerziellen Science-Fiction-Romans erfindet Welten, in die die Phantasie auswandern kann: Exodus aus Wirklichkeit und Gegenwart. Die großen Poeten dagegen, wenn sie sich mit Zukunft befassen, spiegeln die Gegenwart, indem sie von zukünftigen Verhältnissen berichten. Großmeister in dieser authentischen Form des Zukunftsromans ist der polnische Dichter Stanislaw Lém. Über die Gegenwart Polens darf er (wegen der Zensur) nicht viel erzählen. Also hat er die wohl besten Science-Fiction-Romane der Welt geschrieben. Zum Beispiel SOLARIS, die Geschichte einer Sonne, die ein Lebewesen ist oder die vielen Geschichten vom Raumpilot Pirx. Ganz anders in der Formulierung, aber parallel in der Authentizität des Poetischen: Arno Schmidt. Seine Gelehrten auf dem Mond und der Held seines Romans SCHWARZE SPIEGEL, der die Katastrophe des Kalten Kriegs überlebte, gehören zu den Meisterwerken des phantastischen Realismus.
Der Literaturwissenschaftler Dr. Bernd Flessner berichtet.
► Ein Dichter wie ein Vulkan
Reinhard Jirgl erhielt die höchste literarische Auszeichnung in der Bundesrepublik, den Georg-Büchner-Preis für seine zahlreichen Romane. Einer davon behandelt einen Zukunftsstoff. Im 25. Jahrhundert (etwa im Jahre 4016) kehrt die Avantgarde der Menschheit enttäuscht vom Mars auf die Erde zurück. Der Versuch, den roten Planeten für menschliche Zwecke bewohnbar zu machen, ist misslungen. Bei einem zweiten Ansatz soll die Achse des Mars um einige Grad zur Sonne hin gewendet werden. Der Gewaltakt geht schief. Die Sprengung, die die Achse neu ausrichten soll, kickt den Marsmond Phobos in Richtung Erde. Der Einschlag dieses Monds zerstört alles Leben auf Erden.
Diese Geschichte wird mit der unnachahmlichen Wortgewalt und poetischen Kraft Jirgls erzählt: ein Vulkan von Worten. Seinem poetischen Erfahrungsgehalt nach handelt dieser Zukunftsroman im Kern zugleich von allen Vergangenheiten der Menschen und somit von unserer Gegenwart, die an Dramatik nicht arm ist.
Alexander Kluge im Gespräch mit Reinhard Jirgl. Aus Anlass der Dramatisierung seines Romans „Nichts von Euch auf Erden“ an den Münchner Kammerspielen.
► Der Roman des neuen China
Der chinesische Dichter Yu Hua sagt, er habe in zwei Perioden gelebt: der Kulturrevolution und der Jetztzeit. Die Kulturrevolution vergleicht er mit dem Mittelalter in Europa. In der Jetztzeit sei China offener als westliche Gesellschaften. Ein Europäer müsste also 400 Jahre leben, um die gleichen Entwicklungen und Umwälzungen zu erleben wie Yu Hua.
Charakteristisch für eine Zeit mit drastischen Umbrüchen ist, dass deren Dichtkunst mit besonders rabiaten und drastischen Antworten aufwartet. Ein solcher drastischer Roman ist das Werk des chinesischen Dichters Yu Hua, der als Kandidat für den Nobelpreis gilt.
Zwei Halbbrüder, der eine reich und böse, der andere gut und arm, suchen ihr Glück. Keiner von beiden findet es im neuen China, so wenig ihre Eltern ihr Glück in der Kulturrevolution fanden.