Katja Gloger und die Suche nach dem russischen Geheimnis
Die Geschichte Russlands und Deutschlands in den vergangenen 300 Jahren kennt Zeiten großer Faszination aber auch Zeiten erbitterter Feindschaft. Die Zarin Katarina die Große war eine deutsche Prinzessin aus dem Hause Anhalt-Zerbst. Die Zarin holte die besten Gelehrten Deutschlands und der Schweiz an ihre Petersburger Akademie. Ihr Sohn Alexander war es dann, in dessen Dienst sich die Elite des preußischen Militärs nach der Niederlage Preußens begab und der Europa von Napoleon befreite.
Wenige Beziehungen zwischen Nationen waren so wechselhaft wie die zwischen Russland und Deutschland. Ende des 19. Jahrhunderts ist die Faszination, die von der russischen Dichtung, z.B. von Dostojewski, ausging, unbeschreiblich. Parallel zu diesem Auf und Ab der wechselseitigen Beziehungen kann man sehen, wie Alexander von Humboldt den Ural und das Innere Russlands erkundet und den Reichtum an Smaragden und Diamanten als Erster entdeckt. Neben den aggressiven Begegnungen wie sie im Zweiten Weltkrieg stattfanden gibt es eine faszinierende Hinwendung zum Geheimnis der russischen Weiten, geografisch, ökonomisch und spirituell, von deutscher Seite.
Katja Gloger, Publizistin beim STERN, beschreibt diese Suche nach dem „russischen Geheimnis“ in ihrem neuesten Buch.
► Russland und die Deutschen (10 vor 11, Sendung vom 14.08.2017)
Literaturempfehlung
Wie kaum eine andere bestimmt die Beziehung zwischen Deutschen und Russen das Schicksal Europas, im Guten wie im Bösen. Sie ist geprägt von tiefer Freundschaft und ebenso tiefen Vorurteilen, von Verklärung und Furcht, von Bewunderung und Verachtung, gar Hass. Deutschland prägte ganz wesentlich die russische Kultur und seine politischen Eliten: Der russische Präsident Wladimir Putin spricht hervorragend Deutsch. Umgekehrt war Russland lange Zeit geistiger Bezugspunkt in der Entwicklung Deutschlands: Man suchte die Zukunft im Osten. Dieses Buch erzählt Geschichte und Geschichten – lebendig, persönlich, politisch. Von Menschen und Orten, von einer deutschen Zarin und russischen Revolutionären, von Entdeckern, großen Schriftstellern und noch größeren Utopisten. Von Krieg und Frieden, von Schuld und Sühne. Es erzählt von uns. Das Thema ist hochaktuell: Denn die Beziehungen der beiden Länder werden die Sicherheit Europas auch in Zukunft maßgeblich bestimmen. Zwei große Länder, die in Frieden miteinander leben wollen – und müssen.
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► Putins Blick auf die Welt
Dr. Fiona Hill ist eine bedeutende Analystin aus dem Umkreis des Weißen Hauses und arbeitet derzeit für die Brookings-Institution, eine private Stiftung für politische Forschung. Sie ist dort für Europa und Russland zuständig. Aufsehen erregte ihre außerordentlich kenntnisreiche Putin-Biografie, die auf Quellen beruht, die nicht jeder hat.
Der Vater Putins war im 2. Weltkrieg an der Leningrad-Front im Hinterland der Deutschen Kommandant eines russischen Sprengtrupps. Er wurde verraten und schwer verwundet. Mit unbändiger Willenskraft gelangte er durch die Front zurück. Von der Zähigkeit dieses väterlichen Überlebenskampfes ist, so Fiona Hill, der Charakter des russischen Staatschefs bis heute bestimmt. Das Auseinanderfallen der Sowjetunion in Teilrepubliken, das Putin als Geheimdienstoffizier in Dresden erlebte, hat eine weitere Versteifung seiner Haltung hinzugefügt. Ähnlich wie bei Reichswehroffizieren und Freikorpskämpfern nach 1918 in Deutschland.
Alles Politische und alles Militärische in der Welt, so heißt es im Buch „Vom Kriege“ von Clausewitz, hat mit dem „fog of war“, dem „Nebel des Kriegs“ zu rechnen. Navigation in diesem schwierigen Nebelgelände, so Fiona Hill, scheint zu den Spezialfähigkeiten Putins zu zählen.
► Kampf um das Nordmeer
Am Nordpol suchen fünf Mächte ihre Interessen zu wahren: Russland, Kanada, Norwegen, Dänemark und die U.S.A.. Die dicke Eisdecke, welche die Polarkappe bisher bedeckte, beginnt rasant zu schmelzen. Wird es über die Ausbeutung des Nordens einen Kalten Krieg geben?
Christoph Seidler, Wissenschaftsredakteur im Berliner Büro von SPIEGEL ONLINE, berichtet.
► Stalins Ingenieure
Unter dem Zaren trugen russische Ingenieure Uniform. Sie arbeiteten am Aufbau der jungen Industrie Russlands und am Bau der sibirischen Eisenbahn. Sie waren aber als „Söldner der industriellen Armee“ von ihren Dienstherren abhängig und ihrer Gesinnung nach konservativ.
Für die Revolution nach 1917 war dieser traditionelle Stand der Ingenieure unentbehrlich. Ende der 20. Jahre aber im Verlauf des ersten Fünfjahresplanes der Sowjetunion wurden sie zum Ziel einer politischen Kampagne. In großen Schauprozessen wurden Ingenieure zu hohen Strafen und einige zum Tode verurteilt. Der Terror sollte diese für die Industrialisierung wesentliche Unterklasse antreiben. Die Prozesse machten sie zugleich zum Sündenbock für die Fehler der überstürzten Industrialisierung.
In die durch den Terror freiwerdende Positionen rückten junge, bereits in der Revolutionszeit ausgebildete Fachkräfte neu ein: dies sind die eigentlichen Ingineure Stalins. Sie werden in den Schauprozessen von 1936 und 1937 ebenfalls dezimiert. Ihr Idol und führender Repräsentant, der Volkskommissar Ordschonokidze, beging Selbstmord.
Ohne den verbleibenden Rumpf an Stalins Ingenieuren ist aber weder der Flugzeugbau noch die Schwerindustrie, weder das spätere Weltallprogramm noch der Sieg Russlands im Zweiten Weltkrieg zu erklären. Die Lebensläufe weiblicher und männlicher Ingenieure geben ein spannendes Spiegelbild der wechselhaften Geschichte der Sowjetunion und der Revolution von 1917, die im Jahr 2017 auf ihr 100jähriges Jubiläum zurückblicken wird.
Die Osteuropaforscherin Prof. Dr. Susanne Schattenberg, Universität Bremen, berichtet.
► Hallo, hier ist das Krokodil
In der Zeit des Umbruchs nach 1917 in Russland richtete sich die Hoffnung auf die neue Generation der Kinder. Es erwies sich als schwer, die Erwachsenen in ihrer Masse für die neue Zeit zu gewinnen. Sie waren in der alten Zeit groß geworden, im Bürgerkrieg oft entwurzelt, viele waren Analphabeten. So glaubte man, den neuen Menschen von Grund auf bei den Kindern heranbilden zu können. „Von dem, was Künste und Poetik geben können, ist das Beste gut genug für die Kinder!“
Es entstand eine „revolutionäre Schatzkammer von Kinderbüchern“. Künstler und Poeten wie Daniil Charms, Majakowki, El Lisitzky, Tatlin, Marschak und Ossip Mandelstam schufen Kinderbücher oder beteiligten sich daran. Die Tradition russischer Kinderbücher hat Verbindung zu angelsächsischen Quellen wie „Mother Goose annotated“. Eines der beliebtesten Kindergedichte heißt „Telefon“ und stammt von der Leitfigur russischer Kinderliteratur Kornei Tschukowski. Ein Genosse schläft. Neben seinem Bett, sehr modern und elektrifiziert, steht das Telefon. Es ruft an: der Elefant aus Afrika. Gleich der nächste Anruf kommt vom Krokodil: „Ja, das vom Nil“. Das geht über panikanfällige Gazellen, über Affen („Ihr schickt uns Taschentücher, wir wollen Bücher, wir haben nichts zu lesen!“) bis zu einem traurigen Bären („Da telefonierte der Bär. Warum bist du so traurig, mein lieber Bär?
Da sagte er gar nichts mehr / Er war zu bewegt / Und hat aufgelegt“).
Die Slawistin Dr. Marinelli-König, Akademie der Wissenschaften Wien, über Kinderbücher in der russischen Revolutionsära von 1920 bis 1930.