K.H. Bohrer über den Ereignischarakter von Revolutionen
Im Sommer 1967, als nach der Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg der studentische Protest um sich griff, war der Literaturwissenschaftler K. H. Bohrer Chef des Literaturblattes der FAZ. Als einer der Ersten befragte er die Studentenführer. Ausgesandt von einem konservativen Blatt bewegte er sich als Zeitzeuge mit größter Neugierde unter den studentischen Aufrührern. Immer im Disput mit seinem damaligen Freund Jürgen Habermas, der die reformerischen Ansätze der Protestbewegung favorisierte.
K.H. Bohrer dagegen interessierten die Plötzlichkeit und der enthusiastische Ereignischarakter des Aufbruchs. Er stellt jene Monate von vor 50 Jahren in den weiteren Zusammenhang der Revolutionen seit 1789 und den der Kategorie der Plötzlichkeit. Sein Buch, das er als Zeitzeuge und Literat verfasste, hat den Titel „Jetzt“.
► Der politische Aufstand und die Kategorie der Plötzlichkeit (10 vor 11, Sendung vom 31.07.2017)
Literaturempfehlung
In neun Kapiteln spannt Bohrer mit Jetzt den Bogen seiner Lebensgeschichte seit den späten 60er-Jahren: vom Konflikt mit der FAZ und seiner Freundschaft mit Ulrike Meinhof über die realistisch-hochsubjektiven Erfahrungen seiner langjährigen Aufenthalte und universitären Engagements in Frankreich, England, den USA bis hin zum kompromisslosen Rundumblick auf die augenblickliche „Lage“. Scharf geschnittene Porträts von Weggefährten und Freunden, erbitterten Gegnern und geliebten Frauen wechseln mit intellektuellen Abenteuern und erotischen Eskapaden. Es ist die Sucht nach Fremdheit und „Differenz“, die den Erzähler vorantreibt, unbeirrbar in seiner Erwartung, dass die banale Gegenwart umschlägt in das phantastische Jetzt.
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► Niemand betreibt Theorie ohne Grund
Der Ausbruch der studentischen Protestbewegung im Juni 1967 (begleitet von den Rebellionen in Paris und in Berkeley) liegt 50 Jahre zurück. Der politische Aufbruch war begleitet durch einen Hunger nach unbekannten Büchern. Der Enthusiast Peter Gente aus Halberstadt gründete aus diesem intellektuellen Aufbruch heraus später den Merve Verlag. Theorie, sagt Felsch, in Anknüpfung an Gente, ist etwas Aktives. Sie unterscheidet sich gründlich von der eher betrachtenden Hochschul-Philosophie. Es geht um Phantasie und Enthusiasmus.
Die Renaissance der Theorie in den Jahren nach 1967 stützte sich stark auf die Kritische Theorie und deren Vertreter wie Walter Benjamin, Th. W. Adorno, aber auch auf den neu entdeckten frühen Marx und dessen sogenannte „Pariser Manuskripte“. Als der studentische Protest zu stagnieren begann, ersetzten die frischen neuen Theoretiker aus Frankreich wie Foucault, Derrida, Guattari und Deleuze den Bücherstrom und die Schwarzdrucke der Anfangszeit.
Wie ein Scout sucht Philipp Felsch vom Kulturinstitut an der Humboldt Universität die Spuren eines bewundernswerten neugierigen Denkens, dem Menschen wie Peter Gente und Verlage wie der Merve Verlag und die Sachbuchabteilung des Suhrkamp Verlages in der Protestzeit vor 50 Jahren sich widmeten. Geschichte eines „langen Sommers der Theorie“.
► Montag Feuerwerk, Dienstag Demonstration, Mittwoch Revolution
Im 18. Jahrhundert, weit vor Ausbruch der Großen Französischen Revolution, machte der Fischer-Aufstand von Neapel vom Mai 1647 einen nachhaltigen Eindruck auf die europäische Öffentlichkeit! Der Anführer dieser Revolte, ein Fischer namens Masaniello, beschäftigte die Phantasie. Die revolutionäre Bewegung wurde ausgelöst, als den plebejischen Schichten in Neapel, die von freiwachsendem Obst und gelegentlichen Jagdausflügen lebten, durch eine Obststeuer dieser Zugang „zu dem, was die Natur bietet und die Reichen ihnen verweigern“ versperrt wurde. Masaniello als Anführer hatte eine charismatische Ausstrahlung. Er wurde ermordet. Von dieser Revolte handeln zahllose Dichtungen und mehr als sieben Opern. Die letzte dieser Opern, Auberts „Die Stumme von Portici“, zeigte noch 1832 eine so starke revolutionierende Kraft, dass die Opernbesucher auf die Straße gingen und die Wallonische Revolution in Brüssel auslösten.
Dr. Patrick Eigen-Offe vom Zentrum für Literatur und Kulturforschung Berlin untersucht das Echo der Begriffe „Klasse“, „Revolte“ und „Proletariat“ in Literatur, Musik und den Künsten. Für die herrschenden Schichten waren die immer wiederkehrenden Revolten ein unheimliches Phänomen. Sie verglichen die Revolten mit der Hydra, sich selbst mit Herakles. Die Eigenschaft der Hydra wie auch die der Revolutionen erscheint in ihrer Sichtweise als so gefährlich, weil die Hydra viele Schlangenhäupter besitzt und für jedes, das ihr abgeschlagen wird, zwei neue wachsen. Erst als Herakles die Wunden der Hydra mit Stumpf und Stiel ausbrennt, bricht dieses Wachstum ab. In der literarischen und künstlerischen Spiegelung der Revolution wird die Angst vor ihr und die Grausamkeit der Konterrevolutionen erst richtig sichtbar.
► Baustelle Revolution
Die Worte Revolution und Evolution bezeichnen die beiden Antipoden der Veränderung. Evolution ist das Gesetz des Lebendigen. Sie plant nicht. Evolution bastelt. Sie braucht gewaltige Mengen an Zeit. In dieser Weise schafft sie lang andauernde und riesenhafte Veränderungen. Der Revolution entspricht „umgekehrt“ der abrupte Bruch, die Kategorie der Plötzlichkeit. Revolutionär beginnt eine neue Zeit.
In unserem Jahr 2017 gibt es den 100. Jahrestag zum Februar und Oktober 1917, den beiden russischen Revolutionen. 50 Jahre sind es seit dem Sommer 1967, aus dem die Protestbewegungen in Berlin, Frankfurt, Paris und Berkeley hervorgingen. Die Wende von 1989 ereignet sich zeitgleich mit der grausamen Niederschlagung der Rebellion auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und zugleich im Jubiläumsjahr von 200 Jahren der Großen Französischen Revolution. Der Arabische Frühling führte – erschreckend und enttäuschend – zum Elend von Aleppo. Alle Revolutionen hatten bisher einen unverwechselbaren Charakter. Ihre Erfahrungen sind unaufgearbeitet.
Christoph Menke, Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt/Main, Repräsentant der 3. Generation der Frankfurter Kritischen Theorie und Fellow im Wissenschaftskolleg zu Berlin zum Thema „Baustelle Revolution“. Es geht um einen archäologischen Grabungsort (für Ruinen aber auch für Neubau). Bisher hat keine Revolution ihre Versprechungen gehalten und dennoch sind Revolutionen die einzige radikale (d.h. die Wurzeln ergreifende) „Kunst des Neuanfangs“. Wie lernt man das „Anfangen anzufangen und fortzusetzen“? Die historische Erfahrung sagt: „Die Revolution beginnt erst am Tag nach der Revolution“, wenn der Zorn durch Dauerhaftigkeit und Arbeit ersetzt werden muss.
► Der lange Atem
Arabischer Frühling, die studentische Protestbewegung im Juni 1967 (parallel dazu die Rebellionen in Paris und an den amerikanischen Universitäten), die russische Revolution von 1917, die Industrielle Revolution, die Große Französische Revolution – alle diese Umwälzungen, jede für sich, haben ihren eigenen Charakter. Ihre Anfangsversprechen hat keine gehalten. Revolutionen, sagt der Philosoph Christoph Menke, haben einen unglaublichen Zeitbedarf. Der Auszug Israels aus Ägypten, Prototyp eines radikalen Neuanfangs, dauerte 40 Jahre biblischer Zeit. Gute Revolutionen sind vermutlich nicht unter 800 Jahren zu haben.
Christoph Menke hat den Lehrstuhl für PRAKTISCHE PHILOSOPHIE an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt inne. Er zählt zur 3. Generation der Frankfurter Kritischen Theorie. Diese philosophische Richtung, mit Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin, Jürgen Habermas, Oskar Negt in ihren Reihen, steht für die Abwehr gegen den Nationalsozialismus, übersetzt für heutige Zeiten für die Früherkennung der Gefahren des Rechtspopulismus. In dieser Theorie steht die Freiheit, die (wie es schon Immanuel Kant sagt) dem menschlichen Nervensystem und der Evolution der Menschen innewohnt, im Fokus. Das Wort Vernunft („raison“), heißt es bei dem französischen Philosophen Jacques Derrida, lässt sich aus einem altfranzösischen Wort ableiten, das mit „sturmsichere Beladung eines Schiffes“ zu übersetzen ist.