Die Werkstätten der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und dieses Theater als eine Werkstatt überhaupt
Seit mehr als 25 Jahren arbeitete die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin unter der Leitung von Frank Castorf als eine Brutstätte für überraschende Begabungen, innovatives Theater und interessante Grenzüberschreitung. Regisseure wie Christoph Schlingensief, Heiner Müller, der Intendant Frank Castorf selbst, Christoph Marthaler, René Pollesch und Herbert Fritsch haben an diesem Haus ihre (sehr verschiedenartigen, bunten) Spuren hinterlassen. Ein Zentrum der Arbeit sind die ganze Zeit über die Werkstätten.
Im September wird die Leitung des Hauses wechseln. Zum Abschied ein intensiver Blick in die Werkstätten: die Schlosserei, die Tischlerei, die Kostümabteilungen, den Fundus und das aktive Geschehen hinter der Bühne, das die Zuschauer nicht sehen. Dazwischen, ebenfalls zum Abschied, legendäre Aufführungen wie PARISER LEBEN von Jaques Offenbach in der Regie von Christoph Marthaler, DIE MEISTERSINGER VON BERLIN mit Bernd Schütz als Hans Sachs und einer Besetzung, wie es der Pariser Werkstatt Offenbachs entspricht, von sieben Musikern und sechs Sängern und Schauspielern: Richard Wagner wird in dieser skelettierten Form (ohne die 196 Orchestermitglieder in Bayreuth) erst richtig schön. Das Bühnenbild vom aufrührerischen Jonathan Meese. Von René Pollesch die Erfolge SCHMEISS DEIN EGO WEG und der TRAVIATA-CHOR mit Sophie Rois in der Zweigstelle der
Volksbühne im Prater-Garten. Von Christoph Schlingensief Ausschnitte aus seiner drei Tage währenden Mammut-Revue LOVE PANGS – DER SCHMERZKONGRESS. Von hier beginnt die Opernkarriere Schlingensiefs, die ihn mit dem PARSIFAL nach Bayreuth und dem FLIEGENDEN HOLLÄNDER bis Brasilien führt. Sophie Rois spricht über „Liebe härter als Beton“.
Dieses Theater ist eine authentische Alchimistenküche für „Neuerung auf dem Theater“.
Ein Doppelprogramm von 90 Minuten als Adieu.
► Liebe ist härter als Beton (News & Stories, Sendung vom 23.05.2017)
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► Der alte Pfusch ist tot, es lebe der neue!
Die Schauspiel- und Zirkustruppe des Regisseurs Herbert Fritsch erobert mit dem Theaterabend „Pfusch“ neue Dimensionen. Unter energischem Einsatz der Körper, der Stimmen, mit Chaos und Rhythmus und vor allem mit Improvisation und Artistik arbeiten Fritsch und seine Truppe entgegengesetzt zur überlieferten Stelzenkunst. Fritsch knüpft dabei an seine bisherige Linie an, beginnend mit der legendären Aufführung der BANDITEN von Jaques Offenbach in Bremen und der FRAU IM MOND von Paul Lincke an der Volksbühne. „Theater ohne Sinnzwang“. Mit starkem emotionalen Erlebniswert.
Der Schlachtruf und das Motto des Abends „Der alte Pfusch ist tot. Wir glauben an den neuen!“ ist der Oberhausener Erklärung des Jungen Deutschen Films von 1962 entlehnt.
Ein lebendiger Abend. Leider ein Abschied. Das Team wechselt an eine andere Berliner Bühne.
► Seelen-Verkehrsampel mit Musik
Christoph Marthaler ist ein Durch-und-Durch-Musiker von besonderem Format. Berühmter Regisseur, ursprünglich Oboist. Seine Arbeiten sind nicht zu trennen von seinem Stab an ständigen Mitarbeitern, die zu einem kreativen Organismus über Jahrzehnte hin zusammengewachsen sind. Regelmäßig arbeitete Marthaler, der selbst Chef des Zürcher Schauspielhauses war, an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin, jenem natürlichen Attraktor für besondere Begabungen, künstlerische Wagnisse und Abweichungen vom Schema. Diesem Theater gilt Marthalers neueste Revue: „Bekannte Gefühle, gemischte Gesichter“.
Das Bühnenbild zeigt einen Museumsraum, der sukzessive ausgeräumt wird. Mit Palastartig. Fahrstuhl. Bühnenbild und Kostüme: Anna Viebrock („Bühnenbildnerin des Jahres“), die mit Marthaler unzertrennlich zusammenarbeitet. Der riesige Bühnenraum füllt sich im Verlauf des Abends auf zauberhafte Weise mit Slapstick, filmartigem Rhythmus, Tänzen des ganzen Ensembles und vor allem mit purer Musik. Sophie Rois mit großem Chanson, Irm Herrmanns Auftritte, die R.W. Fassbinder und Christoph Schlingensief vom Tode wieder auferwecken. Scheinbar einfache Lieder wie „In einem kühlen Grunde“ und „Brüder, zur Sonne, zur Freiheit“ (vom ganzen Ensemble geflüstert) hat man so noch nie gehört. Musiken aus der Zeit Shakespeares mischen sich mit Tönen von Arnold Schönberg, mit Tango und Rap. Man hat das lange noch im Ohr, weil es, so gesungen, ungewöhnlich ist. Selbst der Freiheitschor von der Hitliste aus Verdis NABUCCO klingt diesmal neu.
Christoph Marthaler nennt seine Revue einen „Abschied“. Man wünscht sich, dass es zu solchem Ende nicht kommt.
► FAUST von Gounod
Frank Castorf, Chef der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, inszeniert die Oper FAUST in Stuttgart auf verblüffende Weise. Diese Oper aus dem 19. Jahrhundert wird gründlich entrümpelt. Das Bühnenbild und die Kostüme: heutiges Paris im Zeitalter der Attentate. Faust, anfangs ein herunter gekommener, zweiflerischer alter Mann, wird durch seinen Pakt mit dem Teufel – wie es Goethe und Gounod vorschreiben – in seine Jugend zurückverwandelt. Er überfällt die junge Margarethe mit seinem Liebesverlangen und stößt sie ins Unglück. Margarethe ist aber niemand, der sich auf diese Weise umbringen lässt. In der Rolle der Margarethe die hinreißende Mandy Fredrich.
Der legendäre Faustwalzer in einem ganz neuen Licht! Wenn er auf den Boulevards von Fallschirmjägern, Legionären und ihren lebensgierigen Geliebten getanzt wird. Text: „Wie der Wind den Staub aus der Ackerfurche weht, tanzen wir in den Himmel hinein“. Überraschend auch die „Hexen“ und die „Engel“ am Ende des Stücks. Die U-Bahn-Station heißt Stalingrad, Reklamen von neuesten Horrorfilmen und von Coca-Cola. Die Bühnenhandlung wird in großformatigen Filmaufnahmen übertragen. Ein ungewöhnlicher Grad von Intimität. Exakt passend zu der filigranen Musik von Gounod.
Mag Gounods Oper weniger modern sein als andere Faust-Opern wie die von Hector Berlioz und die von Ferruccio Busoni, so zeigt sie sich doch in dieser Regie und in der musikalischen Leitung von Marc Soustrot schlüssig und von enormem Schwung. Ein Opernerlebnis mit Ausnahmecharakter.
► „Plötzlich bemerkte ich das Hundegesicht meiner besten Freundin“
„Schlacht um Europa – UFO 97“, „Die 120 Tage von Bottrop“, „Bring mir den Kopf von Adolf Hitler“, „100 Jahre CDU“ „Das deutsche Kettensägenmassaker“, „Terror 2000“ und viele anderen Titel kennzeichnen die Leistungskraft von Christoph Schlingensief. Seine Revuen publiziert er in der Berliner Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Schlingensiefs kämpferischer Geist konzentriert sich auf Europa, den Standort Mülheim im Ruhrgebiet (von dorther stammt er) und auf die Zukunft des Trashs.
In einem entscheidenden Moment seines Lebens hatte er eine Vision: „Plötzlich sah ich, dass meine beste Freundin ein Hundegesicht hatte …“.
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