K.H. Bohrer: Der Überfall des „Jetzt“
Als vor 50 Jahren im sogenannten „Summer of Love“ (der Titel bezieht sich auf die Beatles-Songs, die gesungen wurden) der studentische Protest aufflammte, war K.H. Bohrer Chef des Literaturblatts der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Sofort brach er auf und war im Zentrum der politischen Kämpfe Zeuge: an der Freien Universität Berlin ebenso wie bei der legendären Trauerkundgebung für Benno Ohnesorg in Hannover. Sein Bericht verfügt über das scharfe Auge, über das nur die besessene Zuneigung für die Literatur verfügt. Als Autor und Universitätslehrer lebte er später an der Universität Stanford in den U.S.A.. Er lehrte Hölderlin mit abgewendetem Blick von der sich zeitgleich im nur wenige Kilometer entfernten Silicon Valley sich entfaltender Digitalen Revolution. In seinem neuesten Buch „Jetzt“ hat K.H. Bohrer seine Erinnerungen niedergelegt. Ein persönlicher Bericht, ein historisches Zeugnis und ein literarisches Ereignis. Im Zentrum stehen die Beobachtungsfähigkeiten Baudelaires und Walter Benjamins und vor allem die „Kategorie der Plötzlichkeit“, die K.H. Bohrer, als das Kulturmagazin NEWS & STORIES begann, mit phänomenaler Wucht schon einmal demonstrierte.
Begegnung mit K.H. Bohrer und seinem Buch „Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie“.
► Was unter die Haut geht (News & Stories, Sendung vom 25.04.2017)
Literaturempfehlung
Jetzt: Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie
Karl Heinz Bohrer gilt als einer der streitbarsten deutschen Intellektuellen. Wann immer er in den letzten Jahrzehnten das Wort ergriff, meist in direkter Konfrontation mit dem Mainstream – die höchste Aufmerksamkeit, häufig auch Erregung seiner Zeitgenossen war ihm sicher. Als Leiter des Literaturteils der FAZ im eigenen Haus umstritten, als Herausgeber des Merkur für Reaktionsschnelligkeit und kühne Thematik berüchtigt, als Hochschullehrer eine Gegenfigur der Linken, als Wissenschaftler mit seiner zentralen Theorie der Plötzlichkeit eine Herausforderung für alle, die es gewohnt sind, sich geschichtsphilosophische Sinnhorizonte zurechtzubiegen.
In neun Kapiteln spannt Bohrer mit Jetzt den Bogen seiner Lebensgeschichte seit den späten 60er-Jahren: vom Konflikt mit der FAZ und seiner Freundschaft mit Ulrike Meinhof über die realistisch-hochsubjektiven Erfahrungen seiner langjährigen Aufenthalte und universitären Engagements in Frankreich, England, den USA bis hin zum kompromisslosen Rundumblick auf die augenblickliche „Lage“. Scharf geschnittene Porträts von Weggefährten und Freunden, erbitterten Gegnern und geliebten Frauen wechseln mit intellektuellen Abenteuern und erotischen Eskapaden. Es ist die Sucht nach Fremdheit und „Differenz“, die den Erzähler vorantreibt, unbeirrbar in seiner Erwartung, dass die banale Gegenwart umschlägt in das phantastische Jetzt.
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Sehen Sie dazu auch auf dctp.tv:
► Die Guillotine
Die Französische Revolution wollte mehr Menschlichkeit auch für jene, die zum Tod verurteilt waren. Der Apotheker Guillotin erfand eine Schneidemaschine zum Abschneiden von Köpfen, die berühmte Guillotine. Dass jemand, der langsam geboren und langsam aufgewachsen ist, so schnell zu Tode kommt, ist ein Schock.
Karl Heinz Bohrer, berühmter Essayist und Herausgeber der Monatszeitschrift „Merkur. Zeitschrift für Europäisches Denken“, berichtet über den Schrecken, den diese Maschine verursachte. „Die Kategorie der Plötzlichkeit und das Bild des Schreckens.“
► Philosophie der sinnlichen Kraft
Zur Frankfurter Kritischen Theorie zählen Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Walter Benjamin und Jürgen Habermas. Von dieser Theorie gibt es inzwischen eine dritte Generation. Ein wichtiger Vertreter dieser neuen Generation ist Christoph Menke. Sein Lehrstuhl heißt: praktische Philosophie. Er befasst sich in gleicher Weise mit den Kräften im Menschen, die sich auf die Wahrnehmung und das Ausdrucksvermögen beziehen (Theorie der Ästhetik) wie auf die Kräfte, die sich auf Recht, Gleichheit und Befreiung richten (politische und praktische Philosophie).
Der Prozess der Freiheit, sagt Christoph Menke, wohnt der menschlichen Evolution inne. Er stützt sich auf einen Freiheitsdurst der Sinne selbst, also nicht bloß auf den Eigenwillen und dessen Zähmung. Sinneskräfte sind dabei nicht bloß Sehen, Hören, Tasten, Schmecken, Riechen, also die fünf Sinne, sondern auch die gesellschaftlichen Sinne, deren Zahl nicht messbar ist. Alle diese Kräfte wetteifern in ihrer Tendenz zur Freiheit miteinander.
Die Ausdrucksvermögen der Kunst (das „Können“) und die Unruhe der sinnlichen Kraft sind hierbei die Motoren im Prozess der Freiheit. Christoph Menke spricht in seinen Publikationen von der „Souveränität der Kunst“ und von einer „politischen Philosophie nach Th. W. Adorno und Jacques Derrida“. Eine wohltuend praktische Richtung moderner Theorie.
Begegnung mit Christoph Menke, zurzeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
► Das Schnelle Pferd des Gedankens
Der Philosoph, Soziologe und Naturwissenschaftlich Prof. Dr. Wang-Hui in Peking gilt als der „chinesische Habermas“. Sein besonderes Interesse widmet er der Rekonstruktion und Verankerung der Phänomene des 21. Jahrhunderts in der 4.000jährigen Tradition Chinas. Auf dem Hintergrund dieser Vielfalt zeigt sich die Differenz zwischen europäischem und chinesischem Denken, wobei die Worte und Begriffe, auch wenn sie ähnlich oder gleich klingen, etwas höchst Verschiedenes bezeichnen können. Akzeptiert man aber diese Verschiedenheit, entsteht Verständigung.
In dem Gespräch mit Wang-Hui geht es um die Phänomene „Masse“, „Staat“, „Liebe“, „Gemeinwesen“ und „Sprache“. Schon die Namen großer europäischer Philosophen erhalten in der chinesischen Sprache eine interessante Bedeutung. So heißt Karl Marx wörtlich übersetzt „das schnelle Pferd des Gedankens“, Immanuel Kant heißt „der große und körperlich robuste Tugendhafte“, Hegel kann man mit „das tiefe Meer“ übersetzen.
Begegnung mit Wang-Hui und seinen „lebendigen Begriffen“.