Wäre ein Ritter der traurigen Gestalt (Don Quijote) für Europa besser als ein Ritter der fröhlichen Gestalt (Parsifal)?
Kurz vor seinem 90. Geburtstag kaprizierte sich Martin Walser zwei Wochen lang auf die Frage, mit welchen literarischen Eingriffen man aus dem Stoff des Helden Parsifal einen deutschen Don Quijote entwickeln könnte. Der Impuls dazu war ihm gekommen, als er durch ein Mißverständnis in eine Aufführung von Wagners Bühnenweihfestspiel geraten war. Das Stück sollte die Osterfestspiele einer süddeutschen Stadt touristisch attraktiv machen. Mühselig und aus Höflichkeit, der seinem Charakter widersprach, hatte er die vierstündige Vorstellung abgesessen. Sänger: Mittelklasse. Aber das gewisse „Vakuum mit hohem Potential“, das die aus der Lebensfreude herausgestanzten vier Stunden für ihn ausmachten, hatte ihn auf die Idee gebracht, dem durch Wagner gewalttätig okkupierten Stoff nachzugehen. Die Verse, die er las, glichen die Karfreitagstortur des Musikdramas vollständig aus. (Die Übersetzung ins Hochdeutsche von Dieter Kühn.)
Für welche Periode der mitteleuropäischen Geschichte wäre ein Don Quijote erwünscht? In seinem Entwurf skizzierte Walser einen Charakter in der Sinnesrichtung Eichendorffs. Dieser Mann wird in Brüssel in der europäischen Administration tätig. In Athen ist er Verhandler gegenüber Vertretern des Finanzministeriums und des Ministerpräsidentenamtes der hellenischen Republik. Er erkennt Spuren der Antike in seinen Verhandlungsgegenüber wieder. Der Rettungsplan, mit dem er nach Brüssel zurückkehrt und gleich nach Washington weiterfährt, trifft in der Sitzung des Weltwährungsfonds auf Unglauben.
In den zwei Wochen hatten sich bei Walser vielen Seiten von Notizen angehäuft. Aus ihnen erkannte er, was er durch Denken oder Fühlen allein nicht gewußt hatte, daß es offenbar unmöglich war, einen Helden literarisch zu erfinden (das war ja schon Richard Wagners Fehler gewesen). Man mußte ihn suchen. Zuletzt hatte Walser ein Konvolut von 88 Versen, je zweizeilig, aus Wolfram von Eschenbachs Texten und aus denen Chrétien de Troyes exzerpiert. Das war, hätte ein solcher Held während der Bauernkriege, im Dritten Reich oder – das schien Walser die interessanteste Lösung – während der Funktionskrise der NATO nach der Implosion der Sowjetunion im Jahr 1991 gewirkt, bereits genügend „mitteldeutscher Don Quijote“ oder auch Eulenspiegel.
Mein wahres Motiv
„Mit einem Kelten“, sagte Martin Walser, “ ist Vertrauen nicht schnell herzustellen;
ist es einmal hergestellt, gilt es auf Dauer.“
Er war vom Bodensee herangereist. Zum Silvesterabend war im Züricher Schauspielhaus Marthalers Inszenierung von Shakespeares Wie es euch gefällt zu sehen, ein Musikwerk der besonderen Art. Ich kannte Walser aus der Gruppe 47. Mich hielt er für linksorientiert und somit für einen potentiellen Kritiker seiner öffentlichen Äußerungen der letzten Zeit.
Nach einstündigem Hin- und Herreden, eigentlich ohne Kontakt, fragte er mich, warum ich Geschichten schreibe. So eine direkte Frage, die impliziert, daß ich das Geschichtenschreiben auch unterlassen könnte, also eine Frechheit, führt dazu, daß man die umweglose Antwort sucht.
Mir war klar, daß eigentlich alles, was ich tue, der Herstellung eines Friedens zwischen meinen beiden Eltern, der Rücknahme der Scheidung, dient. Wäre ich in Verhandlungen erfahren gewesen, wie ich es heute bin, wäre es mir gelungen, die beiden auseinanderstrebenden Geister in der Krise von 1941 zusammenzuführen. Beide waren sie in gewisser Hinsicht leichtsinnige Naturen. Leichten Sinnes, d. h. sie hätten es miteinander nochmals versucht. Schon 1936 hatte meine Mutter meine Sachen und mich eingepackt, war zu ihrer Schwester und ihrem Schwager nach Dresden gefahren, um eine Scheidung einzuleiten. Vierjährig, war ich Mitbringsel, kein politischer Faktor.
Infolge einer Kette von Zufällen, auch dank der Klugheit meiner Großmutter mütterlicherseits, einigten sich die beiden ehelichen Kontrahenten. Vor dem Verhandlungszimmer des Landgerichts, das die Scheidung aussprechen sollte, begegneten sie einander und waren rasch entschlossen, sich lieber zu vertragen. Sie fuhren zurück. Glückliche Tage.
Warum wirken die zwei mir und meiner Schwester so vertrauten Personen auf Fotografien nicht als Paar? Das von ihnen eingerichtete Haus: EINE EINHEIT (zerstörbar). Die Kinder, MISCHUNG BEIDER (unzertrennlich). Die beiden selbst aber sozusagen stets vereinigt »unter Vorbehalt«.
Der große Romanautor, der, wenn er an einem Roman schreibt, alle Erfahrungsgehalte seiner Umgebung, alle Reden, denen er begegnet, aufsaugt und in die Handlung integriert, war zum erstenmal von mir als Autor überzeugt (oder nahm mich überhaupt wahr), nachdem ich diesen Grundzweifel, ob ich als Neun- bis Zehnjähriger nicht versagt hätte als Befrieder des ehelichen Bürgerkriegs, angesprochen hatte. Es ist ja wahr, daß alles, was ich empfinde oder denke, darum kreist, die beiden Elternteile erneut zusammenzubringen. Alle Forschung nach einer Parallelwelt oder der Konzession eines zweiten Lebens kreist um die Möglichkeit der Wiederherstellung dieses »Bundes«, der verwirrenderweise kein Bund war, aber einer hätte sein sollen.Wie oft treffen Seelen in der Zukunft erneut aufeinander, wie hoffnungsfroh begegnen sie einander, ohne daß sie wissen warum.
– Dann beruht also der ganze Elan der AUFKLÄRUNG, FÜR DEN SIE BEKANNT SIND, auf einem privaten Motiv?
– Und einem aussichtslosen dazu.
– Wenn ich es richtig verstehe, war in Ihrer Mutter ein Zweifel vorhanden, ob Ihr Vater sie hinreichend begehrte, oder ein Zweifel an »begehrenden Männern überhaupt«?
Man hätte, antwortete ich, eine »Schule der Liebenden« entwerfen müssen. Auf dem Wege der Erwachsenenbildung beide schulen müssen. Es wäre nicht ausgeschlossen gewesen, daß ihre voneinander so entfernten Empfindungen auch hätten zusammenwachsen können.
Außerdem braucht es keine Gleichheit der Gefühle, ergänzte Martin Walser. Es genügt, daß einer ausreichend liebt. Er tut es für zwei. Oder es genügt auch, daß einer einen Funken, der andere einen zweiten beiträgt und daß sich ohne ihren Willen, ohne ihr eigenes Potential, quasi beide seitlich stehend, glückliche Tage ergeben. GEGLÜCKTE TATEN GENÜGEN.
Ein kurzer Moment von Vertrautheit. Er hätte mir nicht konzediert, ebenfalls Kelte zu sein, da das Rhöngebirge die Gebiete des Nordharzes und des Bodensees strikt trennt. Aber daß wir die Eltern und Voreltern aus ihren Kriegen lösen und gerne Friedensschlüsse erreichen würden, darin schienen wir uns einen Augenblick einig. Zumindest war mein Gesprächspartner darin standfest, daß er mir traute, wenn ich in dieser Hinsicht persönlich, nicht »politisch«, argumentierte. Nun ist aber das Politische persönlich.
Beide, Walser und ich, wohnten im Hotel »Zum Storchen«, wie sich herausstellte. Er war in Begleitung einer jungen Frau, ich in Begleitung meiner Frau und meiner Tochter. Die Stunden, die auf Silvester zuliefen, schmolzen dahin. Beide Seiten wendeten sich dem festlichen Jahreswechsel zu. Draußen über dem Fluß und dem See die ersten Raketen.
Was ich aber diesem »literarischen Beichtvater«, dem ich auf Grund seines Vertrauens in meine direkten Empfindungen meinerseits vertraute, nicht sagen konnte, war Folgendes: Im Untergrund beider, charakterlich und körperlich so verschiedener Elternteile gibt es die gleiche Sehnsucht, »sich hingeben zu dürfen, ohne betrogen zu werden«. Beide sind vorsichtig. Über diese Grundströmung gaben sie einander mit Zeichen keine Auskunft. Statt dessen organisierten sie ihre junge Ehe »nach den gesellschaftlichen Bedingungen«, den »Redewendungen der Zeit«. Die sind lax. Während doch die Empfindungen beider dem »Absoluten« zugewendet sind. Das Mißverständnis, das ich als Mißverständnis spürte, war für mich mit der Redeweise eines Neunjährigen nicht aufzuklären. Ich »quengelte«. Beide, in der Eile der Tage, auch befangen durch die Dramatik des Geschehens, abgelenkt durch Romane und Opern, konnten mit den »Störungen«, die ich bewerkstelligte, nichts Produktives anfangen. Sieben Damen und ein Homosexueller verabschiedeten meine Mutter mit roten Rosen bei der Abfahrt des Schnellzugs nach Berlin. Ich trete die Busenfreundin und Vertraute meiner Mutter, weil sie die Abreise und die Trennung willfährig protegierte, gegen das Schienbein. Eine Störung, nichts weiter. Strumpf beschädigt, gemeinsame Untersuchung der Verletzung durch die Damen. Ich werde beiseite geführt. Zuvor, in der Küche des Hauses, zwischen den beiden vertrauten Personen, die zwölf Krisenjahre in Eintracht miteinander verlebt hatten, immerhin Haus und Kinder produziert hatten (meine Mutter hatte außerdem Bäume im Garten fällen lassen, um die Sonneneinwirkung zu verstärken), mit einer Art von Judaskuß. Sie küßten sich auf die Lippen, obwohl sie doch ziemlich endgültig auseinandergingen.
Besonders informativ sind Tagebücher, von denen der Autor annahm, dass sie nie veröffentlicht würden. Sie sind intim und authentisch. Zugleich enthalten sie bei Menschen, zu deren Leben das Schreiben gehört, Fundstücke literarischer Erzählungen, die keiner Planwirtschaft unterliegen. Oft sind das Texte, die noch besser sind als die in den Romanen veröffentlichten.
Schon 1951 ist deutlich, dass Martin Walser sein Leben dem Schreiben widmen wird. Wichtige Zeiten sind das Jahr, in dem Martin Walser, der am Sender Stuttgart für Hörspiele und als Dokumentarfilmer für die unübertroffene Hauptabteilung Dokumentarfilm im beginnenden Fernsehen arbeitet, seine Film über die Republik Polen herstellte. In diesem Jahr wäre Martin Walser beinahe gestorben. Eine Assistenzärztin rettete ihn aus der Klinikfabrik, indem sie dafür sorgte, dass sein Gallenblasenverschluss im letzten Moment operiert wurde.
Begegnung mit Martin Walser aus Anlaß seines Buches „Leben und Schreiben: Tagebücher 1951 – 1962“. Ein Gespräch über Kernpunkte des poetischen Schreibens und die Erzähltradition der Kelten.
*Featured image by Elke Wetzig /CC-BY-SA