Requiem für eine geopferte Frau: La Juive, große Oper von J. F. Halévy
Die Aggressivität, die sich in modernen Zivilisationen staut, sucht Rituale der Grausamkeit, um sich zu entladen. In der Wirklichkeit sind das Pogrome, ethnischer Hass, Terror und Krieg. Ein rituelles Echo davon, dass vor der ständigen Wiederholung der Grausamkeit warnt, findet sich in den Opern.
Davon handelt die Oper von Jacques Fromental Halévy, des Schwiegervaters von Georges Bizet. Ein Jude und seine Adoptivtochter finden sich im Umfeld von Hass und „Volksgeist“ in der Zeit des Konzils von Konstanz. Beide werden zum Tode verurteilt.
Der katalanische Regisseur Calixto Bieito hat das emotional packende Musikwerk, die Lieblingsoper des Pariser Publikums im 19. Jahrhundert, kraftvoll ins 21. Jahrhundert katapultiert: Ein Requiem für eine geopferte Frau. Rachel, die Ziehtochter des Juden Éléazar, wird ins Feuer geworfen. Das Geschehen kommentiert der Dramaturg der Bayerischen Staatsoper München Benedikt Stampfli, der aus der Schweiz stammt.
► Der Sündenbock (10vor11, Sendung vom 05.12.2016)
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► Die Finsterlinge singen Bass
Die Tenorstimme schneidet wie Stahl; sie glänzt. Die Baritone als Väter, Mörder, Kardinale bieten samtenen Raum. Sopranstimmen können entrückt heiter außerirdisch, Königinnen der Nacht, aber auch Hysterie und Verrücktheit ausdrücken. Die Finsterlinge singen Bass.
350 Jahre hat die Oper die europäische Zeitgeschichte begleitet. Dabei haben die Stimmen feste Charaktere eingenommen: Helden, Schweinsköpfe, Komiker, Dreinschläger, Friedensstifter und die entsprechendeninnen.
Der Opernexperte und Schellackplatten-Sammler Jörg Friedrich berichtet.
► Tod der fremden Frau
Im Jahre 1865 hatte Wagners TRISTAN UND ISOLDE Uraufführung in München. Im gleichen Jahr hatte Giacomo Meyerbeers Oper in Paris Premiere. (Posthum, die Oper war grandioser Publikumserfolg, verschwand im 20. Jahrhundert dann von den Bühnen, heute umbenannt in VASCO DA GAMA.) In beiden Opern geht es um einen Liebestod. Dem Tod der Exotin Isolde, einer Irin, entspricht bei Meyerbeer der fast 20-minütige Schlussgesang der „Afrikanerin“ (sie ist eine Sklavin und erweist sich als Königin der Brahmanen). Von ihrem Geliebten verlassen, der nach Westen segelt, setzt sie sich unter den „Manzanillabaum, dessen Duft sanft tötet“.
► Im Zoo der Intoleranz
Der größte Opernerfolg des Komponisten Jacques Fromental Halévy, des Schwiegervaters von Georges Bizet, war die Grand Opera DIE JÜDIN, französisch LA JUIVE. Das 1835 uraufgeführte Werk war lange Zeit die Lieblingsoper der Pariser Gesellschaft und sie faszinierte den jungen Marcel Proust. Es geht um das Requiem für eine geopferte Frau.
Die Handlung spielt zur Zeit des Konzils in Konstanz im Jahre 1414. 30 Jahre zuvor hatte ein Jude ein Mädchen aus einem brennenden Patrizierhaus gerettet. Er zog das Kind als seine Tochter, also als Jüdin, auf. Der biologische Vater dieses Mädchens hat als Kardinal und oberster Richter den Vorsitz des Konzils von Konstanz inne. Er weiß nichts von der Rettung seines Kindes. Das Ganze spielt im Umfeld religiös erhitzter, gewalttätiger Menschen. Weil er am heiligen Sonntag als Goldschmied arbeitet, wird der Ziehvater des Mädchens, das Rahel heißt, verhaftet und zum Tode verurteilt. Die Tochter tritt für ihn ein. Wegen einer komplexen Intrige wird auch sie zum Tode verurteilt und zwar von ihrem eigenen Vater. Der Trauermarsch, der den letzten Akt eröffnet und die Hinrichtung des schönen Mädchens (einer Christin, die sich für eine Jüdin hält) ging bei Uraufführung und geht heute tief unter die Haut.
An der Bayerischen Staatsoper München hat Calixto Bieito dieses „Drama der Irrtümer und Missverständnisse“ völlig neu und emotional stark inszeniert. In der Rolle der Rahel überragend: Aleksandra Kurzak.
► Vom Kampf der Liebe in hasserfüllter Welt
Im Winter 1835 haben in Paris zwei sensationelle Opern Uraufführung: DIE JÜDIN von Jacques Fromental Halévy und I PURITANI von Vincenzo Bellini. Beide handeln in einer Welt des religiösen Fanatismus: die eine 1414 im Kampf zwischen Christen und Juden, die andere in der Zeit, in der Cromwell den König von England enthaupten ließ (1649). Diese Puritaner haben in England das Parlament und die Armee hinter sich gebracht. Sie haben in den Kirchen die Bilder zertrümmerte und Buntheit, Sinnlichkeit und Lebenslust aus der Gesellschaft verbannt. England im Protest. Ein Brexit auf dem Gebiet der Religion.
In Bellinis Meisteroper geht es um ein junges Mädchen voller Lebenshunger. Sie ist die Tochter eines Chefs der Puritaner. In ihrem Kopf hat sie Geschichten von Prinzen, Rittern und den Drei Musketieren. Sie wünscht sich einen königlichen Kavalier. Der steht plötzlich (gegenüber den Puritanern verkleidet) vor ihr. Die Hochzeit wird vorbereitet. Da muss aufgrund einer Intrige dieser Kavalier, genannt Lord Arturo, fliehen. Elvira, das junge Mädchen, verfällt in Wahnsinn.
Oberst Riccardo, ein fanatischer Puritaner, ist auf Elvira gierig und eignet sich die junge Frau an. Elvira durchlebt ein Martyrium. Zugleich bleibt sie widerspenstig, hartnäckig ihrer Liebe zu Arturo verfallen, und am Ende siegreich: Der geliebte Mann kehrt zurück. Je verrückter die Puritaner sich aufführen, desto mehr gewinnt Elvira ihren Verstand zurück.
Bellini hat wie schon in seiner LA SONNAMBULA (die Schlafwandlerin), eine Traumoper geschaffen. Es ist seine letzte und größte Oper, ehe dieses Genie im Alter von 34 Jahren stirbt. Die Staatsoper Stuttgart hat dieses selten gespielte Werk in ein neues, ganz modernes Gewand gekleidet. Bühnenbild und Kostüme: Anna Viebrock. Regie führen der Intendant Jossi Wieler und sein Chefdramaturg Sergio Morabito. Es geht um einen Kampf. Die großartigen Melodienbögen Bellinis ringen mit der kalten, abweisenden Welt des religiösen Fanatismus.
Bei Bellini werden die Puritaner nicht historisch dargestellt, wie in der Vorlage, die auf Sir Walter Scott zurückgeht. Die Inszenierung holt das nach und fügt zur Oper die Zeitgeschichte der Dramatik wirksam hinzu. Den religiösen Fanatikern unserer Jetztzeit, z. B. in Syrien, stehen die „Besessenen“ des 17. Jahrhundert in England in nichts nach. Aus dem Geist dieses Sektierertums kommen aber auch die Pilgerväter, welche die USA mitbegründeten. In weltlicher Form wird der Calvinismus (von dem 2017 unter dem Motto „500 Jahre Reformation“ weltweit die Rede sein wird) in Amerika zu einem Teil des Selbstbewusstseins der westlichen Zivilisation in der Stoßrichtung Freiheit und Wertegemeinschaft.
Alles dies wird in der Stuttgarter Inszenierung lebendig ausgebreitet in den großen Chören, den mit den Ensembleauftritten verbundenen Duetten, Terzetten und Quartetten. Niemand hat je Vincenzo Bellinis in solcher Musik übertroffen.
Überragender Mittelpunkt ist der Sopran der Ana Durlovski. Die junge Mazedonierin singt, spielt und tanzt die Rolle der Elvira wie sie noch nie zu sehen war: vom Leben leicht verführbar, aber unbestechlich in der Liebe. Das Paar Lord Arturo und Elvira verfügt über die schönsten Liebesduette der Opernliteratur.
Ein Doppelprogramm von 90 Minuten.