Dr. Andrew Plested: „Was macht Neuronen glücklich?“
In der Evolution entwickeln sich die Gehirne vor allem bei Lebewesen, die auf das Jagen angewiesen sind. Dieses einzigartige Organ, mit seinen Milliarden Zellverbänden, besitzt eine verblüffende “Plastizität“, d.h. Anpassungsfähigkeit an Unvorhergesehenes. Es ist aber unwahrscheinlich, sagt die Biophysik, dass das Gehirn sich bei seiner konkreten Arbeit selbst wahrnimmt. Das, was wir das „Selbstbewusstsein“ oder das „Gefühl“ nennen, hat seinen Sitz fast überall im Körper: in der Haut, der Leber, den Ohren, den Augen, den Muskeln, aber nicht notwendig im Kopf selbst, obwohl wir uns das so vorstellen. Vermutlich liegt das Bewusstsein im Zwischenraum, also in der Kooperation aller evolutionär entstandenen Teile von uns Menschen (und mit ihnen verwandten Tieren).
Die Gehirnforscher untersuchen sowohl das Zusammenspiel riesiger Neuronenmassen wie auch das Funktionieren einzelner Neuronen. Wann fühlen sich Hirne (falls sie „fühlen“) glücklich? Was macht sie konfus und macht sie „leiden“? Die Gehirne arbeiten elektrisch und chemisch. Gute Chemie mögen sie. Noch mehr aber erfreut sie eine aktive und permanente Herausforderung von außen. Bei Sinnentzug und Leerlauf der Sinne, quasi „arbeitslos“, verhalten sich die Neuronen als wären sie „unglücklich“: Obwohl die Biophysiker bezweifeln, dass sie sich in Gefühlen äußern, so wie wir es tun. Das Hirn hat keinen eigenen Kopf. Das, was wir Kopf nennen, ist eine Kombination und Vorstellung, die wir uns machen. Wir Menschen sind, sagt die Biophysik, vielköpfige Lebewesen.
► Hat das Gehirn einen eigenen Kopf? (10vor11, Sendung vom 26.09.2016)
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► Landkarten des Körpers im Geist
Zu den Geheimnissen der Evolution gehört die Tatsache, dass die Architektur im Gehirn aller Wirbeltiere, also auch von uns Menschen, bisexuell ist. Während sich im Äußeren die Geschlechtsmerkmale deutlich unterscheiden, sind sie auf der Landkarte des Gehirns, also in ihren Abbildungen in den Milliarden Neuronen im Kopf, fast nicht zu unterscheiden.
Einige dieser Rätsel der Evolution dürfen aus ethischen Gründen nicht am Menschen selbst untersucht werden. Ein herausragend geeignetes Tier für die paläobiologischen und biologischen Untersuchungen ist ein sehr kämpferisches, bewegliches, intelligentes und aggressives Lebewesen, das zu unseren Vorfahren zählt: die etruskische Zwergspitzmaus. Sie ist körperlich so klein, dass sie, um die Hitze ihres Körpers auszubrüten, permanent jagen und fressen muss. Für die Navigation ihrer extrem raschen Bewegungen ist die Empfindlichkeit ihrer Barthaare entscheidend. Schaltungen zwischen Körper und Geist, die bei großen Lebewesen wie den Elefanten oder uns Menschen stark verlangsamt und gelegentlich verkümmert sind, sind bei diesen Winzlingen in vivo und mit allen Attributen der „Not, die erfinderisch macht“ zu beobachten.
Prof. Dr. Michael Brecht, Wissenschaftler am Bernstein Zentrum für Computational Neuroscience und der Humboldt-Universität zu Berlin, führt auf eine Forschungsreise in die Landschaften des Körpers, wie sie sich im Gehirn darstellen: „Die Innenausstattung von Angriffsgeist, Intelligenz und Feinsteuerung“.
► Machtzentrale Menschenhirn
Die koloniale Welteroberung durch den westlichen Menschen und das Interesse der Anatomen für das menschliche Gehirn, das diesen Kolonialismus sich ausdachte, setzte im 18. Jahrhundert fast gleichzeitig ein: Das Menschenhirn ist eine Machtzentrale, die sich selbst erforscht. Bei dieser Welteroberung nach außen und nach innen mischen sich Wissenschaft und Vorurteil.
Prof. Dr. med. Pascal Grosse, Arzt und Neurobiologe, berichtet.
In Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftskolleg zu Berlin.
► Der Abgrund zwischen Hirn und Welt
Zwischen der Außenwelt und der Bearbeitung unserer Eindrücke im Gehirn liegt die Grenzlinie zwischen Geist und Physik. Sie bildet einen Abgrund; dringen z.B. Schallwellen ins Ohr, so wird davon nichts direkt in die Zeichensprache der Gehirnzellenübernommen. Alle Laute und Silben werden in extrem kleine Kürzel verwandelt und von verschiedensten Instanzen im Gehirn neu zusammengesetzt. Man kann sagen: die gesammelten Missverständnisse der menschlichen Gehirne über die Welt und das Chaos außen (einschließlich der babylonischen Sprachverwirrung) haben sich in einer langen Evolution so lange aneinander gerieben bis „Wahrnehmung“ und „Verständnis“ entstand.
Prof. Dr. David Poeppel ist als Biologe und Physiker spezialisiert auf diesen „Abgrund zwischen Hirn und Welt“. Ihn wundert immer erneut welch hohes Maß an Übereinstimmung über den Abgrund hinweg zwischen so unvereinbaren Welten wie dem Geist und der Physik entstehen.
► Ich bin Hirnforscher
Thomas Südhof ist ein Grenzgänger zwischen Europa und den USA. Er gehört zu den weltweit bedeutendsten Hirnforschern. Am milliardenschweren Human Brain Project ist er beteiligt. Vor etwa 800 Millionen Jahren, sagt er, entwickelten sich aus urzeitlichen Lebensformen die Tiere. Was sie von Anfang an auszeichnet, sind chemische und später elektrische Botenstoffe und Signale, die die lebendigen Reaktionen ausmachen. Aus dieser internen Kommunikation („empfindender Zellen“) entwickeln sich Nerven und Hirn.
Die Potenz dieser Gehirne, vor allem die des menschlichen, ist enorm. Dies ist paradoxerweise der Unbestimmtheit und Ungenauigkeit der Informationsübertragung zwischen den Synapsen, den Verbindungs- und Nahtstellen zwischen den Elementen des Gehirns, zu verdanken. Gerade die Unbestimmtheit gibt die Chance für die Ausweitung der Information. In ihr besteht die Plastizität des Denkorgans.
Dieses Gehirn, das untrennbar mit dem Körper verknüpft ist, bleibt auch für die modernste Forschung ein Rätsel. Ein Schwerpunkt der Forschung von heute bezieht sich auf die Krankheiten des Geistes, von denen Thomas Südhof annimmt, dass wir deren organische Basis künftig erkennen werden.
Es gibt wenige Personen in der Welt, die so überzeugend sagen können „Ich bin Hirnforscher“ wie Prof. Dr. Südhof.