Hans Blumenbergs Metapher für die „Odyssee der Moderne“
Ursprünglich gelten Kontinente, die von Menschen nicht besiedelt werden – auch deren Klippen, an denen Schiffe scheitern – als Bild der Unsicherheit und als Monster. In der Moderne dagegen gilt das Meer und damit die Schiffe und der Schiffsbruch als Orte der Gefahr. Der Philosoph Hans Blumenberg gebraucht die Metapher des Schiffsbruchs, um den Weg der Menschheit in die Moderne zu beschreiben: Das Scheitern der Französischen Revolution, das Sich-in-Bewegung-setzen der Moderne und ihre rhythmischen Krisen vergleicht er mit einer Schiffsreise und einem permanenten Schiffsbruch. Wir, die Zuschauer, stehen dabei nicht etwa am Ufer. Wir erleben das Schiff und sein Zerbrechen als Mitfahrende und es kommt darauf an zu lernen, aus den Trümmern gescheiterter Schiffe ein neues Schiff zu bauen. Zumindest ein Floss.
In der Kunst ist die Grundmetapher hierfür das „Floß der Medusa“. Nach Napoleons Verbannung fährt ein französisches Kriegsschiff nach Senegal und scheitert durch Unerfahrenheit und Leichtfertigkeit des Kapitäns auf den Riffen vor der Küste. Der Kapitän (ein Royalist und Standesherr) reserviert die wenigen Rettungsboote für sich, seine Offiziere und die Seeleute. Für die mitgeführten Soldaten, die Frauen und Kinder, wird ein Floss gezimmert, das schon bei Betreten unter die Wasseroberfläche gerät. Von 150 Leuten werden, als das Floss endlich Hilfe findet, 15 gerettet. Das Bild von Théodore Géricault ging um die Welt. Das zerfetzte Segel ist noch in Bildern von Delacroix über die zweite Französische Revolution und in Bildern Eisensteins in „Panzerkreuzer Potemkin“ präsent.
Der Schiffbruch des Luxusdampfers Costa Concordia vor der Insel Giglio und das groteske Versagen ihres Kapitäns – ein moderner Schiffbruch 100 Jahre nach dem Untergang der Titanic, aber die Rettungsboote funktionieren immer noch nicht – wirft auf die Metapher von Hans Blumenberg ein grelles Licht.
Prof. Dr. Ulrike Sprenger, Romanistin an der Universität Konstanz berichtet.
► Schiffbruch mit Zuschauer (10 vor 11, Sendung vom 18.07.2016)
Literaturempfehlung
Hans Blumenberg – Schiffbruch mit Zuschauer: Paradigma einer Daseinsmetapher
Was sich der Anstrengung des Begriffs entzieht, ist in jeder Kultur der langwierigen Arbeit an den Bildern überliefert: der Blick auf das Ganze von Wirklichkeit, Welt, Leben und Geschichte. In den großen Metaphern und Gleichnissen schlägt sich nieder, wird abgewandelt und ausgebaut, was an imaginativer Orientierung gewonnen wurde. Eine der immer präsenten Prägungen ist die vom Leben als Seefahrt. Sie umspannt Ausfahrt und Heimkehr, Hafen und fremde Küsten, Ankergrund und Navigation, Sturm und Windstille, Seenot und Schiffbruch, nacktes Überleben und bloßes Zuschauen.
Die Metapher gibt sowohl den Umriß eines Ganzen von vielen Bedingungen und Möglichkeiten als auch die Grenzwerte des nahezu Unmöglichen, das allen anderen im besten Falle als Seemannsgarn angeboten wird.
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► Untergang der Titanic
In einer Werft in Belfast wurde vor 100 Jahren der Unglücksdampfer TITANIC gebaut. Zum Jahrestag, an dem das Schiff im Nordatlantik auf den eisigen Meeresgrund sank, las der Essayist und Dichter Hans Magnus Enzensberger auf einer Barkasse im Hafen von Belfast aus seinem Epos „Der Untergang der Titanic“, bestehend aus 33 Gesängen, die der Dichter provokativ „eine Komödie“ nennt.
Begegnung mit H.M. Enzensberger und seinem Werk als Beitrag zur Jahrhundertchronik 1912-2012.
► Schiffe im Nebel
Die Geschichte der Industrie, sagt der Soziologe Wolf Lepenies, beginnt optimistisch: Der Ingenieur vermag alles. Wenige Jahrzehnte später verbreitet sich Skepsis.
In seinem Buch MELANCHOLIE UND GESELLSCHAFT entwickelt Wolf Lepenies zwei Schlüsselmetaphern. Das Schiff, mit dem Werner von Siemens das Rote Meer bereist, liegt mit entsetzlicher Schlagseite; Werner von Siemens errichtet sogleich eine Art Labor, um den Neigungswinkel während des Schiffsuntergangs zu studieren. Das entspricht der optimistischen Tendenz.
Das zweite Beispiel zeigt französische Kriegsschiffe, die in den Nebel des Atlantiks festliegen. Die Schiffsingenieure zweifeln, daß ihnen in dieser Lage die Modernen, scheren Kaliber der Schiffsschütze irgend etwas nützen.
Schiffe im Nebel.
Ein Gespräch mit Wolf Lepenies, Verfasser des Buches MELANCHOLIE UND GESELLSCHAFT.
► Odysseus und die Wiesel
Homer hat den Prototyp des modernen, unruhigen Geistes geschaffen: die Gestalt des Odysseus. Er ist auch der Held in dem philosophischen Werk von Max Horkheimer und Th. W. Adorno mit dem Titel „Dialektik der Aufklärung“.
Der Finanzexperte und literarische Autor Graf Georg von Wallwitz stellt dem Typus des Odysseus den Typus der Wiesel gegenüber. Sie, sagt er, sind zu klein und nicht listig genug im Verhältnis zu ihrer Gier.
Eine Abenteuerreise durch die Finanzkrise.
► Gebt mir die Zukunft und ich werde die Welt bewegen
Die Moderne im 20. Jahrhundert entsteht auf zwei ganz verschiedenen Seiten: aus dem Projekt der Aufklärung und aus der „Sehnsucht nach Ordnung“. In beiden Fällen, vor allem aber bei der Sehnsucht nach Ordnung, verschränken sich Mythos und Moderne.
Der Zeitgeschichtler Fernando Esposito, London und Universität Tübingen, untersucht diese Frage sowohl für die Hochkunst wie in der massenhaften Populärkultur. Man versteht die Moderne schlecht, sagt er, wenn man die Linie der „konservativen Umstürzler“ auslässt.
Das Idol, gleichzeitig für Mythos und Moderne, ist der homo volans, der fliegende Mensch, das Bild des Ikarus, der stürzt und wiederaufersteht. Die Futuristen sind nicht begriffen, wenn man sie bloß unter dem Faschismus subsumiert. Das Vertrauen in die Aufwärtsbewegung des Fliegens findet sich bei dem Aufklärer und analytischen Geist Aby Warborg ebenso wie bei Marinetti oder schon auf der Flugschau in Brescia 1909.
► Dampfer kaputt!
Aus Anlass des 100. Jahrestages des Untergangs der Titanic. Die Ausbildung von Kapitänen, die Nutzung von Rettungsbooten und das ordnungsgemäße Verlassen havarierter Schiffe im Ernstfall liegen immer noch im Argen. Auch ist der Wetteifer, der die Unglücke fördert, ungemindert: 1912 ging es um das „Blaue Band des Nordatlantik“, mit dem Risiko eines Zusammenstoßes mit dem Eisberg, 2012 ging es um den „Kniefall“ vor einer gefährlichen Felsküste, eine neue, ehrgeizige Mutprobe. Die Havarie der COSTA CONCORDIA zeigt, dass der Fortschritt auf dem Gebiet von Schiffskatastrophen noch nicht an sein Ende gelangt ist.
Helge Schneider in 4 neuen Rollen.
► Schiffbruch der Deutschland
Während des Kirchenkampfes, den Bismarcks Preußen gegen den Katholizismus führten, wurden Nonnen zur Auswanderung veranlasst. Auf dem Segelschiff „Deutschland“ fuhren sie im Wintersturm nach England, um das Anschlußschiff in die U.S.A. zu erreichen. Das Schiff strandete auf einer Sandbank in der Themsemündung. Die Nonnen ertranken.
Der geniale englische Dichter Gerald Manley Hopkins, ein Jesuit, widmete dem Tod der Nonnen auf dem Schiff namens „Deutschland“ eine berühmt gewordene Ballade. Sie gehört zu den ersten Werken des Expressionismus. Sie schildert die Auseinandersetzung einer der Nonnen, die, an den Mast geklammert, mit den Elementen hadert und sich am Ende Gott anvertraut.
Der Benediktinerprior Pater Dr. Michael Wernicke berichtet über den Schiffbruch der Nonnen, die Ballade und die theologische Bedeutung von Schiffbrüchen in der Heiligen Schrift.