Revolutionäres Justiztheater in Russland (1917-1930)
Die Russische Revolution war nach 1917 mit dem Analphabetismus in Russland konfrontiert. Es wurden Alphabetisierungskampagnen begleitet von der Elektrifizierung Sibiriens in Gang gesetzt. Die Revolutionsregierung sah aber rasch, dass sie ihre Ansätze nicht in Schriftform und nicht in Form von Paragraphen ins Volk bringen konnte. Die sogenannte „Proletkultbewegung“, die zeitweise mehr Mitglieder aufwies als die Partei, veranstaltete deshalb GERICHTSTHEATER. Auf improvisierten Bühnen wurden die neue Zeit, die neuen Gesetze und Regeln und die zu bekämpfenden Missstände abgehandelt: revolutionäres Gerichtstheater. Eine Vorführung davon im Jahr 1926, „Gericht gegen ein Kurpfuscherin“, beschreibt Walter Benjamin in seinen Moskauer Tagebüchern.
Diese Gerichtstheater verbanden Unterhaltung, Volksbelustigung und Erziehung. Es gab „Gericht gegen Lenin“ (das für diesen positiv ausging), „Gericht gegen einen Erntedeserteur“ oder ein „Gericht über Gott“ und Tausender anderer Gerichtsfälle. In der Gerichtsverhandlung diente das Publikum als Richter, ähnlich wie im jüngst aufgeführten Drama „Terror!“ von Ferdinand von Schirach. In dem „Gericht über Gott“ bestand das Volksvergnügen darin, dass offensichtlich keine ladungsfähige Anschrift für den Angeklagten ermittelt werden konnte. Wenn es ihn nicht gibt, kann er auch nicht verurteilt werden. Am Ende werden an seiner Stelle ein Mullah, ein Rabbi und ein orthodoxer Pope angeklagt.
In der frühen Phase der Revolution, in der diese Form des Gerichtstheaters üblich war, ist man weit entfernt von den Schrecken der Schauprozesse. In ihnen macht sich die Wirklichkeit zum Theater, anstatt dass das Theater die Wirklichkeit abbildet. Dies in grotesker Umkehrung dessen, was das spielerische Gerichtstheater einst war.
► Gericht über Gott (News & Stories, Sendung vom 15.06.2016)
Sehen Sie dazu auch auf dctp.tv
► „Hallo, hier ist das Krokodil!“
In der Zeit des Umbruchs nach 1917 in Russland richtete sich die Hoffnung auf die neue Generation der Kinder. Es erwies sich als schwer, die Erwachsenen in ihrer Masse für die neue Zeit zu gewinnen. Sie waren in der alten Zeit groß geworden, im Bürgerkrieg oft entwurzelt, viele waren Analphabeten. So glaubte man, den neuen Menschen von Grund auf bei den Kindern heranbilden zu können. „Von dem, was Künste und Poetik geben können, ist das Beste gut genug für die Kinder!“
Es entstand eine „revolutionäre Schatzkammer von Kinderbüchern“. Künstler und Poeten wie Daniil Charms, Majakowki, El Lisitzky, Tatlin, Marschak und Ossip Mandelstam schufen Kinderbücher oder beteiligten sich daran. Die Tradition russischer Kinderbücher hat Verbindung zu angelsächsischen Quellen wie „Mother Goose annotated“. Eines der beliebtesten Kindergedichte heißt „Telefon“ und stammt von der Leitfigur russischer Kinderliteratur Kornei Tschukowski. Ein Genosse schläft. Neben seinem Bett, sehr modern und elektrifiziert, steht das Telefon. Es ruft an: der Elefant aus Afrika. Gleich der nächste Anruf kommt vom Krokodil: „Ja, das vom Nil“. Das geht über panikanfällige Gazellen, über Affen („Ihr schickt uns Taschentücher, wir wollen Bücher, wir haben nichts zu lesen!“) bis zu einem traurigen Bären („Da telefonierte der Bär. Warum bist du so traurig, mein lieber Bär?
Da sagte er gar nichts mehr / Er war zu bewegt / Und hat aufgelegt“).
Die Slawistin Dr. Marinelli-König, Akademie der Wissenschaften Wien, über Kinderbücher in der russischen Revolutionsära von 1920 bis 1930.
► Russland 1917
Wie für einen Besuch bei einem Zahnarzt im Gesicht vermummt fuhr Lenin am Vorabend des Staatsstreichs, der seine Partei für mehr als 70 Jahre an die Macht brachte, mit der Straßenbahn zu seinem Hauptquartier. Die Machtübernahme verlief auch sonst anders als man sie sich vorstellt. Die Bilder vom Sturm auf das Winterpalais sind Jahre später aus einem „inszenierten Massentheater“ und durch Filme erzeugt worden. Diese Bilder überlagern auch die konkrete Erinnerung der Teilnehmer. Der Systemwechsel von 1917 erfolgte wenig spektakulär. Er löste aber, vor allem durch die Umverteilung des Bodens und somit auf dem Lande eine nachhaltige Umwälzung aus, die dann tatsächlich zu einem REVOLUTIONÄREN UMBRUCH wurde. Nicht die Ereignisse in St. Petersburg, sondern diese Wende in den Lebenswelten macht die Substanz der russischen Revolution aus. Alle diese Bereiche des Umbruchs: die radikale Beendigung des Kriegs, die Bodenverteilung, der Kampf gegen den Analphabetismus, die Elektrifizierung, das Medizinalwesen, der Konstruktivismus in der Kunst – alle diese revolutionären Fragmente – haben ihre eigene Geschichte.
Die Forschungen des Osteuropa-Historikers Helmut Altrichter zeigen, wie wenig die russische Revolution von 1917 einem Schema entspricht. Sie entsprach nicht einmal dem Bild, das sich die Revolutionäre selbst, ausgehend von dem Vorbild der Großen Französischen Revolution von 1789 und der Commune von 1871, von den Ereignissen machten. Nach fast 100 Jahren lohnt sich ein Blick auf die eine Rekonstruktion dieser Geschehnisse aus ihren authentischen Elementen. Prof. Dr. Helmut Altrichter von der Universität Erlangen, ein führender Osteuropa-Historiker, berichtet.
► Der Prozess des Sokrates
In Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern widmete Ferdinand von Schirach in Berlin dem Tod des griechischen Philosophen Sokrates einen starken musikalisch-poetischen Abend.
Von dem Prozess des Sokrates berichten unabhängig voneinander seine Schüler Platon (in seiner „Apologie“) und Xenophon. Auffällig, sagt Ferdinand von Schirach, ist es, wie ungeschickt der Philosoph sich vor dem Gericht verteidigt. Er hätte sich auf eine zwei Jahre zuvor, bei Sturz der Aristokratie und dem Sieg der Demokraten, verkündete Amnestie berufen können oder auf die Meinungsfreiheit. Dann hätte er freigesprochen werden müssen. Stattdessen provoziert er das Gericht, das aus 500 Richtern besteht, einer Art Volksversammlung. Schon seit dem Theaterstück „Die Wolke“ von Aristophanes, in dem er als Spottfigur auftaucht, läuft ein „shitstorm“ gegen den Philosophen. Er hatte enge Verbindung zur aristokratischen Partei, die den Demokraten verhasst war.
Nach athenischem Recht kann das Gericht entweder dem Antrag der Kläger (Todesstrafe) oder dem Gegenantrag des Angeklagten folgen, ein Drittes gibt es nicht. Sokrates hätte z.B. auf Verbannung plädieren und so die Todesstrafe vermeiden können. Er aber verlangte statt Strafe eine Belohnung.
In der Nacht nach dem Todesurteil sitzt der Philosoph im Kreise seiner Getreuen. Er opfert dem Arzt-Gott Asklepios einen Hahn und trinkt den Giftbecher bis zur Neige. Die Kunst hat diesen Augenblick viele Mal festgehalten. Eine stoische Haltung: Lieber stirbt er, als falsch zu leben. Die Haltung ist mit der Grundfrage nach dem Sinn des Lebens verknüpft und eine moderne Basis für den dichterischen Blick.
► „Nicht mal ich bin Stalin“
Ein dynamisch in Entwicklung befindliches Gebiet der Geschichtswissenschaften ist die Emotionsgeschichte. Die Gefühle und ihre Benennungen, auch ihre Dominanzen, haben ein Eigenleben. Zorn, Autorität, Werte wechseln in jeder Generation ihre Bedeutung. Dies ist von großer Wichtigkeit, wenn man den Stalin-Kult und den Führer-Kult, also gesellschaftliche Artefakte der Propaganda, untersucht, in die – auch wenn diese Bilder künstlich hergestellt wurden und man den Mechanismus analysiert – gewaltige emotionale Bindungen der Menschen selber eingegangen sind.
Prof. Dr. Jan Plamper, Historiker an der University of London und Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, hat diese Zusammenhänge in seinem Buch über den Stalin-Kult dargestellt. Er vergleicht darin auch die andersgelagerten, aber ebenso aus politischer Absicht von oben und emotionaler Bindung von unten entstandenen Kulte um Adolf Hitler und den Duce Mussolini, wiederum bei genauer Betrachtung zwei höchst verschiedene gesellschaftliche Produkte.
Wer Stalin als Mensch tatsächlich war, ist nicht mehr festzustellen. Seine Taten, die Propagandamaschine und die mit der Stalin-Zeit verbundenen lebensgeschichtlichen Vorstellungen der Menschen haben den authentischen Mann vollständig überlagert. Er selbst hat offenbar diese Differenz gesehen. Als er einen seiner Söhne betrunken vorfindet und ihn zurechtweist, weil er sich bei seiner Festnahme auf den Namen Stalin berief, sagt der Diktator: „Nicht einmal ich bin Stalin“.
► Im Zweifel die Todesstrafe
Spektakuläre Prozesse kennzeichnen die Französische Revolution. Berühmt sind die Verfahren gegen den König und gegen den Revolutionär Danton. Die Revolution schuf zunächst eine Verfassung und damit die Grundlage für langfristige Rechtssicherheit. Dann musste sich die Revolution gegen ihre Feinde verteidigen und entwickelte ein spezielles Revolutionsrecht, das in der Schreckensherrschaft mündete und die Urteile an der Augenblickssituation orientierte. Bevorzugte Beweise waren vor diesen Gerichten „gestohlene Briefe“. Eine Mitteilung, die nie für die Öffentlichkeit bestimmt war, so die Revolutionsrichter, hatte auch keinen Grund zum Lügen. Das waren Erfahrungen, die die Revolutionäre aus den Intimbereichen und den Romanen kannten.
Prof. Dr. Carla Hesse, University of California, ist als Historikerin auf die Justiz der Französischen Revolution spezialisiert. Sie berichtet.
► Goethe verhindert eine Lynchjustiz
Nach der Schlacht von Valmy hatte die französische Revolutionsarmee den „Pfaffenwinkel“ (die rheinischen Kurfürstentümer) überrannt und die Stadt Mainz besetzt. In der Stadt wurde unter französischer Anleitung eine Republik verkündet und ein deutsch-rheinischer Nationalkonvent begründet. Die deutschen Revolutionäre nannten sich Jakobiner oder Clubbisten (weil sie in politischen Clubs tagten). Von einer österreichischen und einer preußischen Armee wurde Mainz dann belagert. Als es zur Kapitulation kam, mussten die französischen Truppen abziehen. Den zivilen Revolutionären in der Stadt drohte die Rache der aus der Stadt vertriebenen Gegenrevolutionäre.
Goethe nahm an prominenter Stelle als Beobachter an der Belagerung teil. In einem konkreten Fall, so berichtet er, warf er sich unter Lebensgefahr einer Menschenmenge entgegen, als diese einen der Jakobiner massakrieren wollte. So beschreibt er es jedenfalls in seinen Memoiren, die er Jahrzehnte später veröffentlichte.
Gustav Seibt, Historiker, Autor im Feuilleton der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG und Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin und, hat Goethes Präsenz bei der Kapitulation von Mainz eine spannende Untersuchung gewidmet. Er berichtet.