Das Wissenschaftskolleg zu Berlin ist ein interdisziplinäres Forschungsinstitut, das Wissenschaftlern die Möglichkeit bietet, sich frei von akademischen Verpflichtungen auf selbstgewählte Arbeitsvorhaben zu konzentrieren. Dabei spielen Interdisziplinarität und Heterogenität der verschiedenen Arbeiten eine große Rolle.
Mit diesen Charakteristika ist das Wissenschaftskolleg ein hervorragender Nährboden für unsere Nachrichtenwerkstatt, in der wir mit allen Partnern an der Aufhebung der Trennung zwischen Tatsachen, Musik, Vernunft und Emotion arbeiten.
► Fellows des Wissenschaftskollegs zu Berlin – Teil 2 (28 Filme)
► Die Zukunft der Verfassung
Die geschriebene Verfassung ist eine Errungenschaft der Moderne. zwei große Revolutionen, die in Frankreich und die in den U.S.A., waren notwendig, um das Prinzip der Konstitution durchzusetzen. Das Grundgesetz der Bundesrepublik gehört zu den späten Verfassungen. Es ist als wehrhafte Verfassung ausgestattet.
Die Verfassung ist ein wertvolles, anvertrautes, öffentliches Gut. Sie bezeichnet den Grundriß des Gemeinwesens. Sie stellt ein Gleichgewichtssystem dar. Änderungen in der Struktur des Territorialstaates, supranationale Organisationen, Globalisierung stellen Herausforderungen an ihre Anpassungsfähigkeit dar.
„DIE ZUKUNFT DER VERFASSUNG“ heißt der Titel eines Buches von Prof. Dr. Dieter Grimm. Er war als Richter am Bundesverfassungsgerichts Berichterstatter für zahlreiche wegweisende Urteile.
► Der Mensch lebt nicht vom Wort allein
Menschen können mit Hilfe ihrer Kehle zur gleichen Zeit entweder essen oder sprechen. Und doch gehört das Reden beim Essen zu den Konventionen mit hohem Ausdruckswert. Zur Sprache gehören nämlich nicht nur die Worte, sondern vor allem auch die Gesten, die Sitten, die Umstände und die Geselligkeit.
Prof. Dr. Angelika Linke, Sprachforscherin an der Universität Zürich und Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, über die Sprachen der Geselligkeit.
► Die Spur der Gier
Während die bürgerliche Revolution von 1848 in Europa scheiterte, löste im gleichen Jahr in Kalifornien der Goldrush eine Massenbewegung der Gier aus, die bis heute auf der Erde ihre Spuren zieht. Der Goldrush ist zugleich die Tragödie eines Schweizer Grundbesitzers, des KAISERS VON KALIFORNIEN, den die Massenbewegung der Goldsucher und ihr Gefolge um Land, Boden und Leben brachte.
Der Philosoph Prof. Dr. Dieter Thomae, Universität St. Gallen, der darüber ein spannendes Buch schrieb, berichtet.
► Der Völkerbund war besser als sein Ruf
Die Historikerin Prof. Dr. Susan Pedersen, Wissenschaftskolleg zu Berlin und Columbia University New York, erforscht die Geschichte des Völkerbunds. Auf diese Organisation, die in Versailles begründet wurde und ihren Sitz in Genf hatte, richteten sich nach Ende des 1. Weltkriegs die Hoffnungen der Menschen. Die Arbeit des Völkerbundes, sagt Susan Pedersen, wird unterschätzt. Sie ist überschattet durch den aggressiven Nationalismus, der in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts die Welt ergriff, und gegen den der Völkerbund machtlos blieb. Dennoch bildete diese Völkerversammlung zum ersten Mal eine Weltöffentlichkeit für eine Politik der kleinen Schritte.
Prof. Dr. Susan Pedersen berichtet.
► Musik entsteht aus dem Lauschen des Jägers
Es geht um Musik aus der Ferne, „unsichtbare Musik“ (weil man die Musiker nicht sieht) und um Beschleunigung in der Musik. Zwischen Gottes Wort in der Antike, von unsichtbarer Musik begleitet und dem Radio in der Moderne liegt die ganze Bandbreite der Kulturgeschichte von Ohr und Auge. Diese beiden Sinne gelangen zu ihrer Höchstform, sobald man sie zu trennen versucht. Dann streben sie nämlich zueinander.
Dr. Martin Kaltenecker, Wissenschaftskolleg zu Berlin, über „unsichtbare Musik“.
► Wie frei ist die Kunst?
Die Absetzung der Mozart-Oper IDOMENEO in der Inszenierung von Hans Neuenfels an der deutschen Oper Berlin wegen eines Sicherheitsrisikos wurde in den in- und ausländischen Medien stark diskutiert. Inzwischen ist beschlossen, die Oper doch aufzuführen. Was sind die Normen, wenn Sicherheitsinteresse und Kunstfreiheit miteinander in Konflikt geraten?
Der Richter am Bundesverfassungsgericht a. D. Prof. Dr. jur. Grimm, Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin, über die Tragweite der Öffentlichkeitsgarantie in Artikel 5 des Grundgesetztes und die Kunstfreiheit.
Begegnung mit Prof. Dr. Dieter Grimm.
► Black Atlantic
Die Menschen, die als Sklaven aus Afrika in die Karibik und nach Brasilien kamen und deren Nachfahren haben dort Religionen entwickelt, die bis in die Moderne eine ungebrochene Vitalität und Vielfalt zeigen. Es sind Religionen der Revolte. Sie sind „synkretistisch“, das heißt sie verknüpfen Vorstellungen und Praktiken verschiedener Herkunft zu einer neuen Religion („Patchwork“).
Dr. Astrid Reuter hat Voodoo (aus Haiti), Candomblé (in Brasilien) und andere Religionen untersucht und darüber geschrieben.
► Die Ohren sind ein Hirn für sich
Seit der Antike begleitet die Musik die menschliche Erfahrung. Dabei besitzt sie, sagt der Harvard-Professor John T. Hamilton, eine glückliche, tröstende und eine unheimliche Seite. Darüber arbeitet er in seinem Projekt „Musik und Wahnsinn“.
Da, wo die Sprache aufhört, beginnt die Musik. Dort, wo die Begriffe nicht mehr gelten, beginnt auch der Wahn. An Beispielen von Heinrich von Kleist, E.T.A. Hoffmann, des Orpheus-Mythos und an Ausschnitten von ORFEO von Monteverdi und anderen Opern zeigt Hamilton die emotionale Verknüpfung in diesem Zusammenhang: Musik ist nicht harmlos, sie besitzt auch Gewalt.
So ist Orpheus fähig, die Götter der Unterwelt mit seiner Musik zu rühren. Kurze Zeit später wird er von den wilden Frauen Thessaliens umgebracht. So ist zwar die Flöte ein Naturprodukt, die wunderbare und poetische Lyra stammt dagegen aus den Sehnen im Hals des abgeschlagenen Hauptes der Medusa.
Die Musik, behauptet Professor Hamilton, ist eine zweite Sprache der Menschen, vermutlich die ursprüngliche. Die Ohren nämlich sind ein „Hirn für sich“.
Begegnung mit Prof. John T. Hamilton.
► Die ältesten sozialen Lebewesen der Erde
Seit 130 Mio. Jahren, schon gleichzeitig mit den Dinosauriern, leben die Termiten. Ihre nächsten Verwandten sind die Schaben.
Dr. Judith Korb, Biologin und Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, berichtet über diese, dem Menschen zunächst fremde, besonders erfolgreiche Tierart: die ätesten sozialen Lebewesen der Erde.
► Der Abgrund zwischen Hirn und Welt
Zwischen der Außenwelt und der Bearbeitung unserer Eindrücke im Gehirn liegt die Grenzlinie zwischen Geist und Physik. Sie bildet einen Abgrund; dringen z.B. Schallwellen ins Ohr, so wird davon nichts direkt in die Zeichensprache der Gehirnzellenübernommen. Alle Laute und Silben werden in extrem kleine Kürzel verwandelt und von verschiedensten Instanzen im Gehirn neu zusammengesetzt. Man kann sagen: die gesammelten Missverständnisse der menschlichen Gehirne über die Welt und das Chaos außen (einschließlich der babylonischen Sprachverwirrung) haben sich in einer langen Evolution so lange aneinander gerieben bis „Wahrnehmung“ und „Verständnis“ entstand.
Prof. Dr. David Poeppel ist als Biologe und Physiker spezialisiert auf diesen „Abgrund zwischen Hirn und Welt“. Ihn wundert immer erneut welch hohes Maß an Übereinstimmung über den Abgrund hinweg zwischen so unvereinbaren Welten wie dem Geist und der Physik entstehen.
► Trauermusik für unstillbares Leid
Franz Liszt schrieb 1836 ein Klavierstück in Erinnerung an die Weber-Aufstände in der Stadt Lyon. Im Zweiten Weltkrieg war Lyon die Hauptstadt der Résistance. Stefan Litwin hat 1999 zu dem Stück von Franz Liszt das NACHSPIEL: LYON 1943 geschrieben. Der heroische Ton Franz Liszts (C-dur) schlägt bei Litwin um in eine Trauermusik, geschrieben in Erinnerung nicht nur an die Résistance und die Morde des SS-Funktionärs Barbie in Lyon, sondern auch an die Shoah.
► Über das Schweigen
Vom Unterschied zwischen Pause und Stille. Was nicht sprechen kann, muss singen können oder schweigen. Geschwätzig dagegen sind die Dämonen. Klaus Reichert, Übersetzer und Autor, Präsident der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, schreibt an einer GESCHICHTE DES SCHWEIGENS.
► Wer die Nachtigall stört
Was tun Tiere, wenn ihre Kommunikationskanäle durch Lärm gestört sind? Singen Killerwale dann ausdrucksstärker? Singen Nachtigallen schöner?
Mit ihrem Gesang markieren Nachtigallen ihr Revier: ein akustisches Haus. Die störungsfreie Übertragung ihrer Gesänge ist für sie und ihre Fortpflanzung lebenswichtig.
Dr. Henrik Brumm, Verhaltensbiologe und Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, zu seinem Forschungsthema: Wie bewältigen Tiere den akustischen Stress in der modernen Welt?
► Die kluge Krähe Betty
Die Intelligenz der Tiere verstehen und entdecken wir so selten, weil wir starrsinnig von unserer eigenen Intelligenz ausgehen. Der Zoologe Prof. Dr. Alexander Kacelnik von der Universität Oxford hat mit seiner Forschungsgruppe die neukaledonische Krähe Betty eingefangen und studiert. Er bescheinigt diesem inzwischen berühmt gewordenen Tier eine hohe KOMBINATORISCHE INTELLIGENZ. Betty hat Gedächtnis, sie ist Werkzeugmacherin, sie verhält sich auf ihr unbekanntem, unnatürlichen Gebiet ebenso sicher wie in der Natur, sie ist detektivisch und sie ist listenreich wie Odysseus.
(nicht für BKM dieser Absatz) Die Gruppe um Alexander Kacelnik berät inzwischen auch große Industrieunternehmen mit der Beobachtungsmethode des Tier- und Evolutionsforschers.
Eine Begegnung mit Prof. Dr. Alexander Kacelnik aus Oxford.
► Wie lebte Shakespeare?
Shakespeare lebte in einer Umgebung, die von religiösen Kämpfen und dem Aufstieg und Fall mächtiger politischer Persönlichkeiten charakterisiert war. Um jeden Preis wollte er überleben und er hat sich zeitlebens getarnt, sodaß seine biografischen Daten oft dunkel sind. Jetzt arbeitet einer der bedeutendsten Shakespeare-Forscher der Welt an einer neuen Biografie des Genies.
Prof. Dr. Stephen Greenblatt, Harvard University, über das glanzvolle frühbürgerliche Genie Shakespeare.
► Auf Leben und Tod
Ein Programm in drei Teilen:
(1) Barbara Kopple, zweifach mit dem Oscar ausgezeichnet, porträtiert in ihrem ungewöhnlichen Film BEARING WITNESS fünf Reporterinnen, die (unter Einsatz ihres Lebens) im Irak, in Tschetschenien, in Afghanistan und auf anderen Kriegsschauplätzen ihren Beruf ausfüllen.
(2) Die SPIEGEL-Reporterin Carolin Emcke hat in Bosnien, Rumänien, in Afghanistan und bei Mossul unter Lebensgefahr recherchiert. Man tut das, sagt sie, nicht bloß als Journalist, sondern weil man ein Zeuge ist.
(3) In dem Beitrag „Frauen als Kriegerinnen“ dokumentiert die britische Hochschullehrerin Helen Watanabe-O’Kelly, Fellow im Wissenschaftskolleg zu Berlin, die Berichte von kriegerischen Taten furchtloser Frauen. Sie charakterisiert außerdem Männerphantasien, die sich um das Bild der kriegerischen Frau ranken. Im Umfeld von Sexualität, Angst, Lust und Gewalt. Von Jeanne D’Arc und Brünnhilde bis zu den Partisaninnen.
Barbara Kopple, Carolin Emcke und Helen Watanabe-O’Kelly zum Thema „Furchtlose Frauen“.
► Deine Seele wirst du verlieren
Die Inquisition verbrannte die Knochen des jüdischportugiesischen Arztes Garcia da Orta Jahre nach dessen Tod. Zu Lebzeiten war der Arzt, wie viele „neue Christen“ (konvertierte Juden es taten) ausgewichen nach Portugiesisch-Indien. Dort hat er das bedeutendste Werk über die Drogen und Heilmittel der Tropen geschrieben. Sein Leben und sein Werk gehört zum Forschungsgebiet von Dr. Ines Zupanov, Paris. Sie berichtet.
► „Nicht mal ich bin Stalin“
Ein dynamisch in Entwicklung befindliches Gebiet der Geschichtswissenschaften ist die Emotionsgeschichte. Die Gefühle und ihre Benennungen, auch ihre Dominanzen, haben ein Eigenleben. Zorn, Autorität, Werte wechseln in jeder Generation ihre Bedeutung. Dies ist von großer Wichtigkeit, wenn man den Stalin-Kult und den Führer-Kult, also gesellschaftliche Artefakte der Propaganda, untersucht, in die – auch wenn diese Bilder künstlich hergestellt wurden und man den Mechanismus analysiert – gewaltige emotionale Bindungen der Menschen selber eingegangen sind.
Prof. Dr. Jan Plamper, Historiker an der University of London und Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, hat diese Zusammenhänge in seinem Buch über den Stalin-Kult dargestellt. Er vergleicht darin auch die andersgelagerten, aber ebenso aus politischer Absicht von oben und emotionaler Bindung von unten entstandenen Kulte um Adolf Hitler und den Duce Mussolini, wiederum bei genauer Betrachtung zwei höchst verschiedene gesellschaftliche Produkte.
Wer Stalin als Mensch tatsächlich war, ist nicht mehr festzustellen. Seine Taten, die Propagandamaschine und die mit der Stalin-Zeit verbundenen lebensgeschichtlichen Vorstellungen der Menschen haben den authentischen Mann vollständig überlagert. Er selbst hat offenbar diese Differenz gesehen. Als er einen seiner Söhne betrunken vorfindet und ihn zurechtweist, weil er sich bei seiner Festnahme auf den Namen Stalin berief, sagt der Diktator: „Nicht einmal ich bin Stalin“.
► Goethe verhindert eine Lynchjustiz
Nach der Schlacht von Valmy hatte die französische Revolutionsarmee den „Pfaffenwinkel“ (die rheinischen Kurfürstentümer) überrannt und die Stadt Mainz besetzt. In der Stadt wurde unter französischer Anleitung eine Republik verkündet und ein deutsch-rheinischer Nationalkonvent begründet. Die deutschen Revolutionäre nannten sich Jakobiner oder Clubbisten (weil sie in politischen Clubs tagten). Von einer österreichischen und einer preußischen Armee wurde Mainz dann belagert. Als es zur Kapitulation kam, mussten die französischen Truppen abziehen. Den zivilen Revolutionären in der Stadt drohte die Rache der aus der Stadt vertriebenen Gegenrevolutionäre.
Goethe nahm an prominenter Stelle als Beobachter an der Belagerung teil. In einem konkreten Fall, so berichtet er, warf er sich unter Lebensgefahr einer Menschenmenge entgegen, als diese einen der Jakobiner massakrieren wollte. So beschreibt er es jedenfalls in seinen Memoiren, die er Jahrzehnte später veröffentlichte.
Gustav Seibt, Historiker, Autor im Feuilleton der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG und Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin und, hat Goethes Präsenz bei der Kapitulation von Mainz eine spannende Untersuchung gewidmet. Er berichtet.
► Die Zeitung als „Eisenbahn des Geistes“ – Die Welt zu Sylvester 1799/1800
Der Jahreswechsel von 1799 auf 1800 wurde als Jahrhundertwende empfunden, obwohl offiziell das Jahrhundert erst mit dem Jahr 1801 begann. Sylvester 1799 ist Napoleon erst 6 Wochen im Amt. Von der Klassik in Weimar geht über ganz Europa eine starke Meinungsmacht aus. Industrie und Welthandel blühen. Die Französische Revolution hat die Fantasien der Menschen angestoßen, dass sich die Verhältnisse verändern. Es handelt sich um eine Zeitenwende. Sie ist gekennzeichnet durch Mobilisierung und eine plötzliche Beschleunigung aller Dinge.
Dr. Lothar Müller, Redakteur im Feuilleton der SZ, ist besonderer Experte für diese Zeit. Es entsteht nämlich der Begriff der „Jetztzeit“ und „Aktualität“, sagt er. Den Taktschlag dafür geben die Zeitungen, die die neue Öffentlichkeit prägen. Die Zeitungen, sagt Lothar Müller, entsprechen für den Zeitgeist dem, was wenig später die Eisenbahnen für die Vernetzung sein werden. „Die Zeitung als Eisenbahn des Geistes“.
► Papier: das Medium der Konzentration
Vor dem Papier gab es die Keilschrift und den Papyrus (aus Schilf). Das Papier wurde in China erfunden und kam über Arabien nach Europa. Es wurde zum Rohstoff der Massenpresse, sobald es nicht nur aus Lumpen, sondern aus Holz hergestellt wurde. Zugleich ist dieses weiße und vor dem Bedrucken oder Beschreiben leere Material für die Niederlegung und Konzentration der Gedanken, also für die „Entäußerung des Geistes“, eine elementare Station. Wie ein Spiegel reflektiert das leere Blatt den Menschen, der ihm seinen Geistesinhalt anvertraut. Mit und ohne Tränen.
In seinem viel beachteten Buch „Weiße Magie“ begründet Dr. Lothar Müller, Redakteur im Feuilleton der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, weshalb das Papier kein bloß technisches Medium ist, sondern ein Kulturträger (einschließlich der Zeitungen und Bücher), das durch die digitale Revolution bisher auch nicht überholt werden kann.
► Tausche Waffenstillstand gegen Kunst
In den Jahren nach der Französischen Revolution, während der Feldzüge Napoleons und der dynamischen Industrialisierung in England beschleunigt sich die Zeitgeschichte. Parallel dazu sieht man, so schildert es Dr. Lothar Müller, wie sich die Kunstwerke in Europa beschleunigt in Bewegung setzen: Sie verändern ihre Orte. Von Athen gelangen die Statuen und Marmorreliefs nach London, von Rom gelangen die Kunstschätze der Renaissance und der Antike nach Paris. Als Beutekunst wird auch die Quadriga des Brandenburger Tors in die französische Hauptstadt verfrachtet. Bei jedem Waffenstillstand wird eine Kunstlieferung ausbedungen.
Dr. Lothar Müller, Autor und Redakteur im Feuilleton der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, hat im Rahmen des Wissenschaftskollegs zu Berlin diese Wanderungsbewegung untersucht. Er berichtet.
► Goethe und Napoleon
Während des Kongresses von Erfurt im Jahre 1808 befand sich Napoleon auf dem Höhepunkt seiner Macht. Fast hätte zu diesem Zeitpunkt ein Gleichgewicht in Europa entstehen können. In dieser besonderen politischen Situation traf der Kaiser den berühmten deutschen Dichter und Geheimrat GOETHE.
Dr. Gustav Seibt, Historiker und Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung, über Napoleon, Goethe und den besonderen historischen Moment, in dem sie einander begegneten: Der Mann des Gleichgewichts (homo compemsator) und der geniale Macher (homo faber).
► Im Zweifel die Todesstrafe
Spektakuläre Prozesse kennzeichnen die Französische Revolution. Berühmt sind die Verfahren gegen den König und gegen den Revolutionär Danton. Die Revolution schuf zunächst eine Verfassung und damit die Grundlage für langfristige Rechtssicherheit. Dann musste sich die Revolution gegen ihre Feinde verteidigen und entwickelte ein spezielles Revolutionsrecht, das in der Schreckensherrschaft mündete und die Urteile an der Augenblickssituation orientierte. Bevorzugte Beweise waren vor diesen Gerichten „gestohlene Briefe“. Eine Mitteilung, die nie für die Öffentlichkeit bestimmt war, so die Revolutionsrichter, hatte auch keinen Grund zum Lügen. Das waren Erfahrungen, die die Revolutionäre aus den Intimbereichen und den Romanen kannten.
Prof. Dr. Carla Hesse, University of California, ist als Historikerin auf die Justiz der Französischen Revolution spezialisiert. Sie berichtet.
► Die Heimkehr der „Hottentotten-Venus“
Eine Angehörige der Urbevölkerung Südafrikas (der Khoisan), geboren 1789, wurde nach London gebracht und dort auf öffentlichen Veranstaltungen als „Hottentotten-Venus“ ausgestellt. Nach ihrem Tode wurden das Skelett dieser Frau sowie eine Nachbildung ihres Körpers konserviert. Fast 100 Jahre befanden sich diese Ausstellungsstücke im Musée de l`Homme in Paris, dann wurden sie nach Südafrika zurückgeführt. Prof. Dr. Gesine Krüger, Universität Zürich, über die Odyssee der Sarah Baartman.
► Es herrscht klirrende Kälte
Ein Mädchen erfriert, nicht verirrt im Wald, sondern unter den hell erleuchteten, festlichen Fenstern der Stadt in der Neujahrsnacht.
Der Komponist Helmut Lachenmann hat sein Meisterwerk DAS MÄDCHEN MIT DEN SCHWEFELHÖLZERN, nach der Erzählung von Hans Christian Andersen und nach einem Text von Grudrun Ensslin aus Stammheim, der „öffentlichen Kälte“ gewidmet, die es in den modernen Gesellschaften gibt.
Mit ihrer Aufsehen erregenden und richtungsweisenden Aufführung dieser selten gespielten Oper, ist die Nummer Eins der deutschen Opernhäuser, das Staatstheater Stuttgart, in den Palais Garnier – die Pariser Oper – eingeladen.
Musikalische Leitung: Lothar Zagrosek. Eine musikalische Seltenheit.
► Schiffe im Nebel
Die Geschichte der Industrie, sagt der Soziologe Wolf Lepenies, beginnt optimistisch: Der Ingenieur vermag alles. Wenige Jahrzehnte später verbreitet sich Skepsis.
In seinem Buch MELANCHOLIE UND GESELLSCHAFT entwickelt Wolf Lepenies zwei Schlüsselmetaphern. Das Schiff, mit dem Werner von Siemens das Rote Meer bereist, liegt mit entsetzlicher Schlagseite; Werner von Siemens errichtet sogleich eine Art Labor, um den Neigungswinkel während des Schiffsuntergangs zu studieren. Das entspricht der optimistischen Tendenz.
Das zweite Beispiel zeigt französische Kriegsschiffe, die in den Nebel des Atlantiks festliegen. Die Schiffsingenieure zweifeln, daß ihnen in dieser Lage die Modernen, scheren Kaliber der Schiffsschütze irgend etwas nützen.
Schiffe im Nebel.
Ein Gespräch mit Wolf Lepenies, Verfasser des Buches MELANCHOLIE UND GESELLSCHAFT.
► Melancholie und Gesellschaft
Ganze Völker und Kontinente, ganze Zeitalter werden von Schwermut ergriffen. Der bürgerliche Mensch (homo novus) ensteht als Optimist und anschließend entwikelt er eine Intelligenztradition der Melancholie. Ist für Kreativität ein Quantum solcher Melancholie nötig ? Warum gilt in der mittelalterlichen Theologie die „acedia“ (das nächste Verwandte der Melancholie) als Totsünde ?
Worin besteht die geselschaftliche Dimension der Schwermut ?
Prof. Dr. Wolf Lepenies, Rektor des Wissenschaftskollegs in Berlin, Soziologe und Verfasser des Buches MELANCHOLIE UND GESELLSCHAFT berichtet.