Kluges Radio – Eine Sendereihe in SWR2 Essay mit Alexander Kluge

Von Stephan Krass
SWR2 Essay
Radio ist „Vertrauensbildung über das Ohr“, sagt Alexander Kluge. Der Hörer erlebt sich als Angesprochener, das Ohr ist sein Empfangsorgan. 360 verschiedene Signale könne das Ohr in der Sekunde wahrnehmen, das Auge lediglich 16. Nur unsere Fußsohlen seien noch sensibler. Alexander Kluge, Jahrgang 1932, kennt das Radio aus einer Zeit, als es noch in den Kinderschuhen steckte. Der Vater, Arzt in Halberstadt, hatte ein Gerät, mit dem er Radio Roma empfangen konnte. Aus dieser Zeit stammt auch die lebenslange Faszination des Sohnes für die Oper. Später haben ihm die amerikanischen GIs imponiert, die „im Nebenberuf“ in der deutschen Besatzungszone für das Radio arbeiteten. „Die fielen aus ihrer Bettkoje und fingen an zu moderieren.“ Dieser Sound sei ihm immer noch im Ohr. Heute müsse man, „das Beste, was Radio je konnte“, sammeln und mit Blick auf das 100jährige Jubiläum des Rundfunks dokumentieren. Das Radio, so Kluge, habe im Laufe seiner Geschichte „gezaubert“, sei „Wagnisse eingegangen“ und sei freier als das Fernsehen. Hörfunk ist Mündlichkeit, Gegenwart.
Alexander Kluge blickt von einer Warte auf die Welt, in der sich 12 Jahre Nationalsozialismus, 6 Jahre Krieg und siebzig Jahre Frieden versammeln. Er weiß, dass die Zivilisation eine sehr dünne Schicht ist. Umso wichtiger wird es, Erinnerung an Geistesgegenwart zu koppeln. Wenn Kluge über einen Bombeneinschlag in seinem Heimatort Halberstadt spricht, spürt man, dass die Zeit in ihrem linearen Verlauf Tag auf Tag, Jahr auf Jahr häuft, die Präsenz einer persönlichen Erfahrung aber große Distanzen im Flug zurücklegen kann. Dabei müssen die Antennen immer ganz weit ausgefahren sein. So kann die sensuelle Fähigkeit des Ohrs auch ein Modell für den Aufmerksamkeitsgrad bei künstlerischen Fragestellungen werden.
Ob als Filmregisseur oder Schriftsteller richtet Alexander Kluge die filigranen Instrumente seiner Neugier auf die Ideengeschichte, anthropologisches Urwissen, das Repertoire von Erzählungen und auf historische oder empirische Daten. Aus der Kombination von scheinbar disparaten Elementen entwickelt sich die Logik von Kluges Geschichten. Die poetische Kraft seiner Imagination kann die entlegensten Motive zusammenbinden. Auf diese Weise ist ein singuläres Werk entstanden, das Bilder und Worte, Schrift und Ton, Dialog und Diskurs, Fiktion und Fakten in sich aufgenommen hat. Impulsgeber war stets das Ohr mit seiner Fähigkeit, als hochsensibles Empfangsorgan den eigenen Standort in der Welt zu orten, Orientierung zu schaffen und das Gleichgewicht nicht zu verlieren.
In einer dreiteiligen Sendereihe in SWR2 Essay führt Alexander Kluge das vor. Er fragt nach einem moralischen Kompass angesichts der politischen und sozialen Herausforderungen des 21.
Jahrhunderts. Welches Selbstverständnis und welche Steuerungsmechanismen brauchen Verantwortungsträger in Ökonomie und Politik? Wie viel Realismus erfordert eine moralische Haltung in Notlagen? Welchen Charaktertypus modelliert die moderne Kapitalwirtschaft? Ist Korruption ein notwendiges Übel? Bei der Bearbeitung dieser Fragen kann Kluge auf ein breites Spektrum an Stimmen zurückgreifen, das er im Zuge der Recherchen für sein 2015 entstandenes Filmprojekt Signaturen der Verlässlichkeit versammelt hat. Dazu gehört der Soziologe Prof. Dr. Dirk Baecker, der Althistoriker Prof. Dr. Martin Zimmermann, der Literaturwissenschaftler Prof. Dr. Joseph Vogl, der Bildungsforscher Prof. Dr. Gerd Gigerenzer, der Evolutionsbiologe Prof. Dr. Eckart Voland, die Wirtschaftshistorikerin Dr. Julia Rischbieter und der investigative Journalist Hans Leyendecker. Das Ohr des Hörers ist nun aufgerufen, die Vertrauenswürdigkeit dieser akustischen Signale zu überprüfen.


Sendedaten in SWR2 jeweils 22:03-23:00 Uhr:

SWR2 Essay
Montag 07.03.2016
Kluges Radio. Signaturen der Verlässlichkeit
Chefs und Mitarbeiter in Unternehmen brauchen Wagemut, aber auch einen moralischen Kompass, Orientierung an Werten. Die Sensibilität für richtiges Verhalten hat sich durch die globale Finanzkrise noch verstärkt. Welchen Charakter, welches Ego, welche Steuerung brauchen Verantwortungsträger im 21. Jahrhundert? Welche Funktion übernimmt das Gewissen dabei? Wie viel Realismus erfordert eine moralische Haltung in äußerster Notlage? Und wie formierte sich Integrität in der Antike? Der vielfach ausgezeichnete Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge befragt wissenschaftliche Experten wie den Soziologen Prof. Dirk Baecker, den Evolutionsbiologen Prof. Eckart Voland und den Althistoriker Prof. Martin Zimmermann.
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Montag 14.03.2016
Kluges Radio. Römische Tugenden
Freundschaft, Vertrauen und Integrität sind Tugenden, die für das alte Rom konstitutiv waren. Aber es gab auch Formen der Herrschaft, die von Machtmissbrauch und Konspiration gekennzeichnet waren. Zudem trieb eine Phalanx ‚grauer Männer‘ ihr Unwesen, über die noch keine Geschichte geschrieben wurde. Wo lagen die Grenzen zwischen Freundschaft, Loyalität und Nepotismus? Was lesen wir bei den großen Geschichtsschreibern Livius und Tacitus über moralische Traditionen? Können wir von Caesar, Cicero oder Augustus lernen? Und welche Rolle spielten die einflussreichen Frauen im alten Rom, von denen man heute oft nicht mal den Namen kennt? Der vielfach ausgezeichnete Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge befragt den Althistoriker Prof. Martin Zimmermann und die Wirtschaftshistorikerin Dr. Julia Rischbieter.
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Montag 21.03.2016
Kluges Radio. Geld und Charakter
Wie man in den Evangelien von Wundern spricht, erzählt man sich Geschichten von großen Reichtümern. Diesen Erzählungen liegt das Wissen um die Kapitalwirtschaft und das Bild von historisch geprägten Charaktertypen zugrunde. Entweder hockt der Krösus geizig auf seinem Reichtum oder er gibt sich als Spieler, der bereit ist, alles zu verzocken oder ihn treibt die Gier wie einen hormongesteuerten Investmentbanker. Wie prägen und verändern sich Einstellungen zum Geld? Welchen Charaktertyp braucht die Kapitalwirtschaft heute? Und welche Rolle spielt Korruption? Der vielfach ausgezeichnete Filmemacher und Schriftsteller Alexander Kluge befragt den Kulturwissenschaftler Prof. Joseph Vogl, den Evolutionsbiologen Prof. Eckart Voland und den investigativen Journalisten Hans Leyendecker.
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