Mit Pierre Boulez ist ein Komponist und Dirigent gestorben, den keiner ersetzt. Wo etwas mit Moderne in der Musik zu tun hatte, war er der Motor. Als Christoph Schlingensief den Parsifal in Bayreuth inszenierte und überall aneckte, stützte ihn der Dirigent Boulez den Rücken. Mit Patrice Chéreau realisierte er den Ring des Nibelungen in vermutlich unübertroffener Weise. Jetzt wird dieser großartige Heide für die Götter die Musik machen.
Alexander Kluge
9 Filme und 6 Texte für Pierre Boulez von Alexander Kluge
► Was wäre der Gegenpol zu „AKADEMISCH“?
Pierre Boulez in Baden-Baden
Kluge: Der einzige mir bekannte Sender der ARD, der wirklich Modernität in der Musik und überhaupt Musik als Zentrum hat, ist der Südwestfunk.
Boulez: Ja.
Kluge: Das haben Sie mit Herrn Strobel damals…
Boulez: Ich war nicht allein, ich war da, natürlich, aber Herr Strobel hat mich eingeladen, deshalb bin ich nach Deutschland umgesiedelt 1958.
Kluge: Aber nach wie vor geht von der Quelle Musik aus.
Boulez: Ja, mein erster Kontakt mit dem Südwestfunk geht zurück auf 1951, ich war damals 26 und wirklich unbekannt und ich erinnere mich, Strobel hat mich besucht in Paris und er wollte mir einen Auftrag geben, 1951, und damals gab es Rosport und Rosport hat wirklich das Orchester erzogen nicht nur das Repertoire zu spielen, sondern auch zeitgenössische Musik. Ab 1955 hatte ich einen engen Kontakt gehabt und ab 1958 war er ganz eng. Strobel war so eine starke Per¬sönlichkeit, dass er wirklich diesen Rundfunk in Bewegung gebracht hat und diese Bewegung ist noch da.
Kluge: Das heißt, was an guter Musik vorkommt, das kommt dort vor.
Boulez: Ja. Ich, und wir alle, waren sehr froh darüber, wenn z.B. gesagt wurde, Donaueschingen wird nicht mehr alle Jahre stattfinden, aber alle zwei Jahre, denn der Etat des Südwestfunks erlaubt nicht mehr. Das waren 300.000 Mark. Was ist das für ein Rundfunk, wenn man denkt, was man bringt für Fernsehen.
Kluge: Der Etat des WDR für ein Jahr ist 1 Milliarde Mark.
Boulez: Das ist sehr viel.
Kluge: Wenn Sie auf einen Tag, z.B. für Silvester 2000, MTV, den Sender, in Ihre Regie bekommen, Sie dürfen als Architekt, als Inten¬dant alles machen was Sie wollen, können Sie sich vorstellen, daß Sie einen Tag mit wirklicher Musik diesen Sender füllen?
Boulez: Das ist eine Frage, zu der kann ich nicht im Detail…
Kluge: Es ist etwas anderes als ein Opernhaus.
Boulez: Ja, ja, ich weiß, aber erstens sehe ich MTV alle sechs Monate einmal für 5 Minuten oder 10 Minuten.
Kluge: Sie haben früher auch Opernhäuser nicht oft gesehen.
Boulez: (lacht) Das ist wahr. Aber ich habe auch nie ein Opernhaus geleitet.
Kluge: Aber als Kompositionsauftrag und als architektonischer Auf¬trag ist es doch interessant, so eine Maschinerie: an wen es angeht sendet.
Boulez: Ja, ja sicher, aber man muß beruflich sich zuerst damit befassen, denn die Zuschauer sehen: die machen das, die machen das…
Kluge: Es muß ja nicht immer alles Original sein.
Boulez: Ja, aber ich bin, wie ich Ihnen schon gesagt habe, immer für Professionalität. Wenn ich mich auf einem Gebiet nicht professionell fühle, würde ich das nicht antasten.
Kluge: Aber die Tagesschau, die Nachrichten, könnte man doch z.B. rezitativisch…
Boulez: Das würde mir vielleicht eher liegen, weil die Leute mich dann überhaupt nicht verstehen würden, es würde ein dauerndes Mißverständnis für die Nachrichten. Die schlimmsten Nachrichten würden sehr schön gesungen, das wäre phantastisch.
Kluge: Die könnten doch gesprochen werden nach wie vor, aber Sie könnten doch mit Musik kurz kommentieren.
Boulez: Nein, nein, gesungen, finde ich, das wäre schöner. Ich finde, es gibt ein Problem mit der Musik im Fernsehen, nicht daß man sagt sie wäre schlecht, das ist nicht schlecht in diesem Sinne, es gibt ein Hauptproblem: daß die Zeit der Musik überhaupt nicht die Zeit des Fernsehens ist. Ein Satz von Mahler z.B. dauert 35 oder 40 Minuten, die Zeit von Fernsehen ist viel schneller, also was kann man machen. Ich sitze also neben den Paukern, das ist mein favorite place.
Kluge: Warum denn?
Boulez: Der Pauker ist immer sehr weit weg.
► Pierre Boulez „Très vif. Strident“
Das Prinzip
Phönix /
Morgenröte“,
„Silvestermusik“
Boulez: Man wird für sich selbst neu geboren jeden Tag, oder wenn Sie wollen, man ist wie ein Phönix, man muß sich verbrennen jeden Tag, um wirklich jeden Tag neu geboren zu sein. Wenn man sich nicht jeden Tag in Frage stellt, finde ich, hat das Leben keinen Sinn.
Kluge: Ernst Jünger beschreibt: Er wacht auf und er weiß eine Sekunde lang nicht, ob er lebt oder nicht lebt.
Boulez: Wer?
Kluge: Ernst Jünger, der Dichter.
Boulez: Ernst Jünger, ja.
Kluge: Er beschreibt das sehr präzise, daß es diesen Moment gibt, der ihn sehr fesselt.
Boulez: Nein, da bin ich nicht so ängstlich, muß ich sagen. Ich wache sehr gerne auf.
Kluge: Morgenröte, ist das etwas für Sie?
Boulez: Das hängt davon ab, wie ich gearbeitet habe. Als ich jünger war, habe ich sehr gerne in der Nacht gearbeitet, denn man ist nicht gestört, nicht nur durch Telefon und so, das ist trivial, ich meine nur durch den Tag, den Verlauf des Tages. In der Nacht sind Sie vollkommen allein und besonders wenn ich auf dem Land war, dann habe ich die Morgenröte gesehen und dabei denke ich an Mallarmé, er hat eine wunderbare Sonette darüber geschrieben: Ich kann schlafen, der Tag ist schon da. Das ist ja der Sinn von Mallarmé: Ich kann wirklich aufhören, denn der Tag wird jetzt für mich leben. Da habe ich das auch erlebt oder wenn Sie z.B. auf dem Land sind und sind früh zu Bett gegangen, dann sehen Sie es als einen Anfang, nicht als Schluß.
Kluge: Ein leeres Blatt sozusagen.
Boulez: Ja, ein leeres Blatt, ein weißes Blatt, worauf Sie schreiben können. Deswegen, es hängt davon ab, in welcher Situation man sich befindet. Ich bin selber nicht an ein Symptom gebunden oder ein anderes, ich finde die Beziehung mit dem Tag oder mit der Nacht oder irgendetwas sollte immer lebendig sein und sie muß wechseln. Wenn ich kann, der Tag als Anfang oder als Schluß ist mir sehr lieb oder, besonders auf Reisen, gehe ich über den Tag und am Nachmittag aus und am Abend bin ich wieder frisch, dann kann ich wieder arbeiten. Ich finde, man muß alle Möglichkeiten nutzen, das hängt davon ab, wie Sie es erleben wollen.
Kluge: Wenn jetzt ein Schriftsteller Ihnen ein Libretto schriebe, die Silvester des 20. Jahrhunderts, sie sind alle verschieden, und sie haben manchmal sehr eigenartige Untergangsstimmungen von 1954 auf 1955 ist in westlichen Ländern und in Ihrem Land ein Anfang, in Deutschland ein eingebildeter Untergang usw. Das Inflationsjahr 1923 bei uns ist ein eigenartiges Silvester und die wirklichen Verhältnisse und was man alles in die Luft ballert an Feuerwerk und Freude zeigt, ist immer in einem Gegensatz, es ist nie realistisch. Wie wären solche Silvestermusiken von Boulez?
Boulez: Sehen Sie, ich wurde, wie Sie wissen, in Frankreich erzogen und ab 18 war ich immer in Paris und habe ziemlich viele Silvester gehabt und gefeiert oder nicht gefeiert, aber es war immer ziemlich ruhig am Silversterabend. Jetzt gibt es ein Hupkonzert auf der Champs-Élysées und so, aber das erstemal in Deutschland, nachdem ich nach Baden-Baden umgesiedelt war, man hat mich nicht gewarnt, denn für die Deutschen war das ja ganz normal, und plötzlich, um Mitternacht, habe ich all diese Glocken gehört und alle diese Raketen und das Feuerwerk, ich war vollkommen verblüfft und seither habe ich das sehr gerne, nicht die Raketen für sich allein, sondern diese Mischung von dem ganz trockenen Geräusch der Raketen, den Explosionen, die nicht so gute Erinnerungen für mich sind wegen des Krieges, …
Kluge: Das hat aber alles miteinander zu tun.
Boulez: …und dieser kontinuierliche Klang von Glocken, die Frieden symbolisieren, und das war eine komische Mischung für mich, einer¬seits Krieg, was am schlimmsten war, und die Glocken, die im Gegenteil für den Frieden geläutet haben, das Gedächtnis funktioniert wie Proust, also mit Assoziationen. Die Glocken sind mir in Erinne¬rung geblieben aus der Nacht der Befreiung von Paris im August 1944, die Amerikaner und Franzosen sind dann gekommen, alle die Glocken von Paris haben geläutet und das war gegen 9 Uhr oder 10 Uhr am Abend und das vergesse ich natürlich nie, das war solch ein Eindruck und all das hat Silvester in Erinnerung gebracht und ich konnte das nicht konzipieren, mein Silvester, es ist wirklich eine ganz merkwürdige Mischung. Jetzt, nach so vielen Jahren in Deutschland, bin ich das natürlich gewöhnt, aber dieser erste Eindruck bleibt noch.
Kluge: Und so etwas, das ist jetzt ein Eindruck, den kann man direkt natürlich nicht komponieren, aber Sie könnten zu Ehren dieses eigenen Eindrucks und zur Ehrung der neuen Fläche der nächsten hundert Jahre…
Boulez: Ich kann mir denken, wenn ich etwas transponieren wollte, einen kontinuierlichen Klang, wie Glockenklang, und im Gegenteil ganz trockene und harte Töne, kurze Töne, das könnte ich mir denken: zwei Welten konfrontieren sich, um eine Einheit zu werden. Aber, was ich gerade beschrieben habe, so eine realistische Erinnerung, könnte ich nur abstrakt umsetzen, ich will nicht imitieren.
Kluge: Wie Moses gehen Sie vor, d.h. etwas, das gar nichts damit zu tun hat, aber zu Ehren dieses Gehörten und dieses Subjektiven, machen Sie etwas völlig anderes.
Boulez: Das muß immer durch mich filtriert sein sozusagen.
► Franz Kafka. Komponieren wie ein Raubvogel
Die Götterdämmerung in Wien
(für Pierre Boulez)
Im März 1945 war die Metropole Wien von sowjetischen Stoßtruppen umstellt. Nur nach Norden und Nordwesten bestand noch Landverbindung zum Reich. In diesem Moment befahl der Gauleiter und Reichsverteidigungs-Kommissar Baldur von Schirach, Herrscher der Stadt, eine letzte Festaufführung der »Götterdämmerung«. Am Vorabend der Hauptprobe I (mit Orchester und Kostümen, aber ohne Brand Walhalls im Dritten Akt, die Generalprobe sollte dann vom Rundfunk aufgenommen und übertragen werden, auf eine Premiere wurde verzichtet) flogen US-Geschwader von Italien nach Wien und bombardierten das Zentrum. DIE OPER BRANNTE AUS. Nunmehr übte das Orchester in Gruppen, aufgeteilt auf verschiedene Luftschutzkeller der Stadt. Die linke Orchesterseite arbeitete in fünf Gruppen in Kellern der Ringstraße.
Artillerieeinschläge im Umfeld. Eigene schwere Artillerie war in der Nähe eingegraben und schoß sich auf sowjetische Fernkampfgeschütze ein. Infanteristen und Eisenbahner waren als Läufer den probenden Musikteilen beigestellt. Die so überbrachten Nachrichten wurden ergänzt durch FELDTELEFONE, die nicht nur den Dirigenten mit den Orchesterteilen, sondern auch diese untereinander verknüpften.
Die Geräusche des Endkampfes um Wien waren nicht auszufiltern, die Orchesterfragmente ergaben keinen einheitlichen Klang. Da die Wiener Brücken bedroht waren, gab der befehlsführende Generaloberst Rendulic an den Stab des Reichsverteidigungskommissars eine Warnung durch. Der Abtransport der Sänger und Orchestermitglieder in den Westen Österreichs müsse vorgezogen werden, wenn man sie retten wolle. Man könne deshalb nicht auf die Hauptprobe I warten, sondern müsse improvisieren. Daraufhin befahl der Reichsverteidigungskommissar, ein noch junger Mann, daß die Rundfunkaufnahmen des bis dahin erarbeiteten Klangbildes sofort, d. h. noch am gleichen Tag, durchzuführen seien. Die funktechnische Aufnahme der »Fragmente« der »Götterdämmerung« begann deshalb um 11.30 Uhr mit der ersten Szene des Dritten Aufzugs (Siegfried und die Rheintöchter).
Es waren aber DURCH ZUFALL noch dreitausend Meter 35-mm-Agfafilm-Farbmaterial in der Stadt Wien gelagert. Oberstleutnant i. G. Gerd Jänicke, der die ihm unterstehenden vier Propaganda-Kompanien in den belagerten Raum Wien zusammengezogen hatte, ging von der festen Absicht aus, das Unglück dieser Stadt zu filmen. Jetzt konkretisierte er seinen Entschluß. Er befahl, die Orchesterleistung in Bild und Ton festzuhalten.
Die Propagandatrupps des Oberstleutnant Jänicke sicherten die unentwickelten Negative und Tonmaterialien in einer Garage der Wiener Hofburg. Beabsichtigt war die Verfrachtung nach Oslo oder Narvik mit einer der letzten Maschinen, die aus Wien abflogen. Im Gegensatz zu 1918 wurden in diesem Krieg die Körper, die Panzer, die Städte zersprengt, der Geist dagegen blieb unverletzt. Theoretisch, sagte Jänicke, ist der Endsieg auch bei Zerschlagung aller Wehrmittel, allein durch den Willen und geistige Waffen möglich. Vor allem gilt das für die Mittel der Musik.
► Zum Ruinengesetz in der Musik (Gespräch mit Pierre Boulez in Salzburg)
„Wirklichkeits-Götterdämmerung“ (Transkription eines Gesprächs mit Pierre Boulez)
Kluge: Und da gibt es ein Beispiel. Bei der Belagerung von Wien 1945 hat Baldur von Schirach, der Gauleiter, angeordnet, daß sich das Dritte Reich verabschiedet aus Wien mit einer letzten Aufführung der Götterdämmerung. In der Nacht vor der Generalprobe brannte das Opernhaus ab und jetzt waren in 14 Kellern die Sänger und die Orchestermitglieder verteilt und über Feldtelefone der Wehrmacht haben sie miteinander kommuniziert und die Endproben abgerichtet. Qualität im konzertanten Sinne ist es ja nicht.
Boulez: Nein, sicher nicht. Aber das war eine Raumverteilung, zum ersten Mal…
Kluge: Eine Wirklichkeits-Götterdämmerung, Artillerieeinschläge, Bombeneinschläge und die Reste der Musik.
Boulez: Ja, das war wirklich…
Kluge: …verteilt in Orchesterperspektiven.
Boulez: Jaja. Das ist interessant. Nicht als Experiment, ich glaube man will nicht dieses Experiment sehr oft machen, aber was ist interessant in einer guten Orchestrierung – und ich habe gesagt, Wagner-Orchestrierung ist sehr, sehr gut – das ist die Orchestergruppen könnten unabhängig gehört werden, weil die sind natürlich Teil einer größeren Gruppe, aber als Gruppe haben sie einen Sinn. Und deswegen, ich meine, ich habe das einmal erlebt selber. Nicht in Wien, nicht in ’45, aber als ich zum ersten Mal in Bayreuth gewesen bin, zwischen 1966 und ’70, ich habe Parsifal dirigiert und der Karl Böhm hat „Den Ring“ dirigiert und ich habe – weil Wilhelm Wagner hat mich gebeten schon an „Den Ring“ zu denken – ich möchte gern „Den Ring“ im Zuschauerraum sehen, aber ich möchte sehr gerne Böhm sehen, wie er dirigiert, wie er es macht mit dem Orchester, es ist sehr unterschiedlich von dem, was ich mache zum Beispiel usw. usw. Und ich bin gesessen neben Pauken, hinter der Posaune, ganz am Ende des Orchesters. Und was ich gehört habe, das war solch eine – wie sagt man – vollkommen deformiert…
Kluge: …Brei…
Boulez: Nicht ein Brei. Ich habe die Posaunen sehr stark gehört, wenn die da waren, die Geige kaum, die Stimme wirklich, wenn das Orchester nicht zu laut gespielt hat oder sehr leise gespielt hat. So das war eine Perspektive, die vollkommen falsch war und deswegen frage ich mich manchmal…
Kluge: Aber hatte die auch einen Reiz?
Boulez: Tja, das war auch für mich sehr komisch, merkwürdig, aber komisch auch, weil dann Partitur war… Sehen Sie… Können Sie denken, daß Sie sehen zum Beispiel die Sixtinische Kapelle nur mit dem Ohr von einem Spieler zum Beispiel. Das wäre nicht beispielgebend für die ganze „Capella Sistina“, aber Sie können sehen, zum Beispiel, wie Michelangelo das gemalt hat, wie seine Technik war usw. Und deswegen, das war ein bisschen derselbe Gesichtspunkt. Ich habe gehört, ja, er schreibt für die Blechbläser in dieser Art, also die tiefen Blechbläser besonders, oder für die Pauken und natürlich das Orchester habe ich ganz vage gehört als eine Hintergrundlandschaft. So deswegen, man wundert sich so als Dirigent manchmal: wie kann es so gut gehen manchmal, wenn jeder solch einen kleinen Geschichtspunkt in seiner Ecke… und er kann nicht weiter hören, weil es gibt zum Beispiel einen Wall von Blechbläsern oder einen Wall von Schlagzeugern, eine Mauer, ich meine. Und deswegen, das ist für mich so… Sie sprechen von Ruinen – ein Orchester ist eine rekonstruierte Ruine, permanent…
So jung war das Jahrtausend
Der Forschungsgegenstand des mit Zerfall der DDR aus seinem Akademie-Amt gejagten Historikers Xaver Holtzmann war faszinierend: die Zeit der Sachsen-Kaiser (900-1024). In diesem riesigen Forschungsgebiet war Holtzmann spezialisiert auf den Enkel Ottos des Großen, den Sohn der Kaiserin Theophanu.
Brechtisch saß der Dramatiker Heiner Müller neben Holtzmann, der ihm berichtete. So fliegt dem Dichter der Stoff zu. Er muß nur entspannt, ein Getränk vor sich, Pausen einlegen, aus dem Geschäftsbetrieb der Tage Zeiten herausstanzen. Dies ist die eigentliche poetische Tätigkeit, die Herstellung einer Absenz.
Müller fesselte Holtzmanns Schilderung eines Tages im Jahre 1000: Alle fürchten eine Katastrophe, wenn der Tag zu Ende geht. Der Kaiser, am Vortag in Aachen angelangt, flüchtet in die Kirche, die Karl dem Großen gewidmet ist. Am späten Nachmittag gelingt Handwerkern der Durchbruch in die Gruft des Kaisers. Die Barone und Ritter, die den jungen Kaiser begleiten, kriechen durch die Trümmerstücke in das Kellergewölbe. In großer Furcht verbringen sie dort die Mitternachtsstunde. Um drei Uhr früh kriechen sie an die Oberfläche zurück.
Noch in der Nacht hämmerte Müller einen Text in seine Schreibmaschine, die die Momentaufnahme festhält. Wer komponiert das?
Pierre Boulez plante damals, auch im Gespräch mit Heiner Müller, Neukompositionen bezogen auf die damals erwartete Präsidentschaft von Nike Wagner in Bayreuth. Dann kann nämlich Wagners Werk ganzjährig und umgeben von Neuproduktion dort aufgeführt werden. Die Szene in der Kaisergruft, in der Tonbearbeitung von Pierre Boulez, ergäbe eine unheimliche Unterbrechung der Götterdämmerung zwischen zweitem und drittem Aufzug. Heiner Müller interessierten zu diesem Zeitpunkt »Zwischenspiele«: die Wiedererweckung der Oper aus deren Pause. Ihm war aufgefallen, daß sich das Musiktheater, einmal in Bewegung gesetzt, schwer anhalten läßt. Deshalb müssen neue Produkte die Pausen strukturieren, die Akte auseinanderdrängen und der Tendenz nach das antiquierte Musikwerk zum Verschwinden bringen.
► Wie komponiert Wagner den „Wald“?
► „Götterdämmerung“ in einer Baracke am Rhein – Wagners Plan
Eiserner Grundsatz von Pierre Boulez:
»So lange zu experimentieren durch immer erneute Variationen der Opernhandlung, bis sich aus dem Labyrinth der tragischen Wiederholung Auswege ergeben: tragisches Geschehen mit glücklichem Ausgang, wie sie uns die Odyssee vorführt.«
► Pierre Boulez über Heiner Müller
► Alle Franzosen, die etwas wollen, gehen nach Paris
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