Vor 20 Jahren, am 30. Dezember 1995, ist der Poet und Theatermann Heiner Müller gestorben. Für mich bleibt er der Stürmischste und Attraktivste unter den deutschen Dramatikern unserer Zeit. Wenn ich die Flüchtlingskolonnen sehe oder die wirren Verhältnisse in der Levante mich beunruhigen, suche ich nach Texten von Müller oder frage mich, welche Stücke er in unseren Tagen geschrieben hätte. Hätte er Metaphern gefunden, die beschreiben, wie sich am 13. November 2015 der Handyhimmel über Paris plötzlich verdunkelt?
Irgendwann muss man die Tagesnachrichten durchbrechen. Und dann tut man gut, nach Texten von Heiner Müller zu greifen.
Alexander Kluge
„Er wollte nicht der Ort sein, an dem die Abrißbirne wütet“
Notiz von Heiner Müller auf einem Bierdeckel; es sollte eine Ode daraus werden. Müller selbst trank kein Bier. Was bedeutet dieser Satz, mein Freund? Er heißt so, wie er lautet, antwortete der Dramatiker. Ich glaubte, den lakonischen Satz folgendermaßen zu verstehen: Über Generationen hinweg, oft direkten Abkömmlinge überspringend und bei den Neffen und Nichten weiterwirkend, setzt sich die kollektive Erfahrung der Vorfahren (wie ein ZWEITES UNBEWUSSTES) im Inneren der Menschen um. Die Abrißbirnen, die in den Städten die Häuser niederrissen (auch Luftangriff), beginnen auf diese Art dreißig bis vierzig Jahre nach dem Ereignis, in Form innerer Unruhe „das Herz zu zerreißen“. Besser, man erinnert sich nicht. Niemand aber hat die Macht, sich gegen diese „Wiederkehr von Vergangenheit“ abzuschotten. Das erklärte mir Müller eine gute Stunde nach meiner Frage durch einen ähnlich kurzen Satz. Der Dramatiker war nicht der Meinung, daß Auslegung einem solchen Satz etwas hinzufügt.
► Ein Käfig, der einen Vogel sucht
Heiner Müller zur Finanzkrise
In seinem Todesjahr verfolgte Heiner Müller die Absicht, ein Drama über ÖKONOMIE zu schreiben. Er war angeregt durch Dirk Baeckers Publikation Postheroisches Management. Das war der Einbruch westlicher ökonomischer Analyse in Müllers Denken. Die Rasanz des Stoffes verblüffte ihn.
Müller erinnerte sich an seine Studien vor Ort im Arbeitsprozeß der DDR. Er hatte sie in jener Zeit betrieben, in der er bei den Behörden der DDR in Ungnade stand. Stücke, die von der Produktion handelten, konnte er nur schreiben, wenn er Erfahrungen in den Betrieben gewann. Mit dem ganz anderen Raster Dirk Baeckers hatte er die eigenen Eindrücke erneut vor Augen. Beeindruckt hatte ihn die REPARATURINTELLIGENZ in den Betrieben. Binnen Stunden richteten die Praktiker eine havarierte Maschine wieder her (gegen alle Wahrscheinlichkeit, daß dieser schon im Krieg verschlissene Apparat, der in den Jahren der DDR nie erneuert worden war, überhaupt wieder in Gang gesetzt werden könnte). Der Grund für solches Gelingen war in einer unmerklichen Kooperation zu finden, die mehr bedeutete, als »aus Irrtümern zu lernen«.
In vieler Hinsicht erinnerten solche Kooperationen an Phasen des Frühkapitalismus, meinte Müller, in denen die Ausbeuter und die Werktätigen noch physisch aufeinander einzuwirken vermochten. In seiner Skizze für das Drama, das jetzt moderne, westliche Erfahrungen am Beispiel der ostdeutschen Bundesländer dramatisieren sollte, baute er diese Erfahrung aus den siebziger Jahren gleich in der zweiten Szene seiner Skizze ein.
► Die Geschichte vom gekochten Frosch (zu Dirk Baeckers POSTHEROISCHEM MANAGEMENT)
Müllers starke Worte
1969 tippte Heiner Müller Ausdrücke seines vulkanischen Gemüts in die Schreibmaschine, Worte, die den Zensoren der DDR mißfielen. Sie waren nicht gegen den Kurs der Partei gerichtet, irritierten aber durch die Wahl der Metaphern. Wie ein Seher, der tiefe Vergangenheit von einer Höhlenwand abliest, rief Müller Grausamkeiten aus Äonen, die der kapitalistischen Produktionsweise vorausgingen, ins Gedächtnis. Im Rahmen der Planerfüllung konnten die poetischen Ausführungen nur ablenkend wirken. Ich glaube aber, äußerte einer der Zensoren, der Müller oft in der Kantine des Berliner Ensembles traf, daß Müller tatsächlich etwas von den Abgründen der menschlichen Vorgeschichte wußte.
Das ergibt Wortklumpen. Der mit der Zensurarbeit beauftragte Genosse sagte das in bedauerndem Ton, es ist wie bei einem Propheten, aber ich vermag es nicht zu billigen. Genosse Müller habe er zu dem Dichter gesagt, was sie hier schreiben, gibt es in keinem praktischen Fall in der Republik und auch nicht in Westdeutschland oder in den USA, daß nämlich ein heimkehrender Sohn seine Mutter mit dem Beil erschlägt. Es wäre uns als Pressemeldung aufgefallen. Wir haben genügend Probleme als Kader, die sich mühen, evangelische Pfarrer mit den Prinzipien des in Entwicklung befindlichen Sozialismus zu versöhnen, ich brauche keine SCHLANGEN, WELCHE DIE BRÜSTE EINER MUTTER AUSSAUGEN. Es erwies sich aber als unmöglich, schloß der Kader, Müller diesen Satz auszureden. Das scheint mir, der ich aus dem Norden Brandenburgs stamme, eine Übertreibung. Mir gelang es nicht, Müller diesen Satz auszureden.
Der Genosse Sedow von der sowjetischen Akademie der Wissenschaften wiederum wies mich darauf hin, fuhr der Genosse fort, daß Müllers Sätze nach neuester Forschung gar nicht abwegig seien. In einer Kalkstein-Höhle in den Karpaten hatte dieser Archäologe Depots von Kinderschädeln ausgegraben und gleich wieder zugebuddelt, weil die Nachricht von solchen Opferstätten nicht zur Linie der Akademie der Wissenschaften in Moskau Ende der sechziger Jahre paßte. Es handelte sich nicht bloß um Kapitalismus, sondern um die Massentötung überschießender Geburtsjahrgängen.
Heiner Müller und »Die Gestalt des Arbeiters«
Herakles, sagt Heiner Müller, verkörpert in den Mythen als erster die »Gestalt des Arbeiters«. In einer von Göttern auferlegten Verwirrung tötet er »das Liebste, das er hat«, darunter seine Kinder, seine Frau, zündet das Haus an. Geistesabwesend verhält er sich zerstörerisch »auf entsetzliche Weise«.
Der tief frustrierte Herakles trägt die Säulen der Welt auf seinen Schultern, die doch längst eingestürzt sein müßten. Und so warten die Toten, die um das Jahr 1000 nach Christus den Einsturz der Welt bei Aachen erwarteten, immer noch vergeblich. Es ist kein Stillstand, der das Ende der Arbeiten verhindert, die durch unverschuldete Schuld motorisiert wurden.
ICH: Das habe ich nicht verstanden.
MÜLLER: Es bezieht sich nur auf Herakles als »Gestalt des Arbeiters«.
ICH: Denn im Kosmos kann man nicht von Schuld sprechen?
MÜLLER: Es sei denn, im Sinne einer Bilanz.
ICH: Und die gibt es nicht, weil man Quanten nicht zusammenrechnen kann?
MÜLLER: Davon verstehe ich nichts. Wenn du dich aber einmal einer solchen dunklen Wand, die alles an sich zieht, näherst, einer gewaltigen Schranke der Dunkelheit, so wirst du einen Blitz sehen, der dem Ungeheuer entweicht. Das ist verboten, aber es geschieht.
ICH: Das würde ich aber nicht »sehen«? Weil ich entweder in der Welt der Gravitationsfalle oder in der Welt des Blitzes beobachte? Niemand sieht diese Arbeit?
MÜLLER: Dann sieht man auch nicht, woran Herakles gesaugt hat und was ihm die Sinne so verwirrte, daß er »das Liebste, was er hat«, zerstörte.
ICH: Nein, beides gleichzeitig sieht man nicht.
MÜLLER: Aber man weiß, daß man falsch beobachtet hat, wenn es nur eins gibt.
► 1945 warst du 16 Jahre alt (Gespräch zum 60. Geburtstag im Jahr 1989)
Übungen für „Herzensmatte“
Das Schlimmste wäre, wenn die Sterne ungestützt auf ihre Gesichter fallen. Dann würden die Toten zu Kopffüßlern. Sie sollen nicht wie der Wächter des dritten Tors in der ägyptischen Antike werden, „der das Verfaulte aus seinem Hinterteil frißt“. Statt dessen sollen sie zu Wächtern des fünften Tors werden, von insgesamt zwölf. Das sind DIE MIT DEM WACHSAMEN HERZEN.
In einem Gespräch mit mir (nicht alle sind aufgezeichnet) stellte Heiner Müller fest: Unsere Welt besteht, solange die Zahl der Toten, nämlich das TOTENGERICHT, größer als die Heere der Lebenden ist. An unsichtbaren Fäden, an Schnüren, die wir in uns tragen, halten sie das Gleichgewicht fest. Das hat Müller noch im Koma zum Jahreswechsel 1995/96 vor dem Personal der Todesklinik bezeugt.
„[…] Das große Tribunal, das ist Osiris, das ist Isis,
das ist Nephthys, das ist Horus, der seinen Vater schützt …“
Und es heißt: „‘Uto, die Herrin der Flammen‘. Das ist das Sonnenauge.“
Und der Großaffe Kong spricht:
Und meine Augen blicken umher
Unter jenen Horizontbewohnern
An jenem Tag, an dem mit den Räubern
Abgerechnet wird.“
Das Poetische heißt sammeln
Es war in der Woche nach Heiner Müllers Rückkehr aus Verdun. Er sehnte sich nach Brei. In Kantinen und Gaststätten gibt es das nicht. Deshalb entstand der Plan, sich nach Baden-Baden in ein Kurhotel umzuquartieren, wo es vielleicht bekömmliche Breikost gäbe.
In einer der langen Wartezeiten, die der Dichter in der generösen Hotelhalle verbrachte, trat ein Mann auf ihn zu, dessen Name Müller aus der akademischen Warteschleife der neuen Bundesländer zu kennen glaubte. Zunächst hielt er diesen Mann für verrückt. Das bezog sich vor allem auf die Bitte zur Zusammenarbeit. Der Dramatiker solle mit ihm, einem Techniker, Wissenschaftler und Geschäftsmann, eine Handelsgesellschaft gründen und diese durch die Herstellung poetischer Texte unterstützen. Den Gewinn, schlug der Gesprächspartner vor, sollten sie teilen.
In Baden-Baden halte er sich auf, berichtete der Mann, weil hier in unterirdischen Zisternen noch Wasser aus dem vorigen Jahrhundert aufbewahrt werde; Wasser, wie es Dostojewski bei seinen Besuchen noch getrunken habe. Zu erwähnen seien auch die Süßwasserschläuche zwischen Spitzbergen und Grönland, unsichtbar im Meer verborgen, aber versehen mit Wasserqualitäten von großer Dichte.
Die Bewertungsskala für die Qualität von Wasser bewege sich zwischen 1 bis 12. Ob Müller ihm folge? Er nickte. Er mußte ohnehin warten. Gewässer mit Bewertungszahl 12, fuhr der Geschäftsmann fort, können als unbezahlbar gelten. Sie entstehen auf dem Planeten aufgrund gewisser Schichtungen des Gesteins nur in drei oder fünf Fällen; z. B. im Pamir, von dort aber schwer abzutransportieren, da solches Wasser sich durch den Transport verändert. Nun stellte sich der Mann vor, gab Müller seine Visitenkarte. Er hieß Prof. Dr. F. Wilde.
Der Experte sprach von den Altseen der Sahara. Es gibt zwölf solcher Seen. Mit einem Alter von 66 Millionen Jahren. Nur an der Oase Bisra gibt es eine Höhle, die Zugang zu einem dieser Seen gewährt. Der Zugang wurde auf Veranlassung des Afrika-Korps 1943 versiegelt, ehe die Briten Libyen einnahmen. Die Wasserproben enthielten Getier, das auf dem Planeten unbekannt ist. Das Wasser hatte einen »blutähnlichen Geschmack« und stillte den Durst eines durchschnittlichen Trinkers um 23% schneller und vollständiger als das Einheitsdestillat nach DIN Reichsnorm, das wir als Trinkwasser bezeichnen. Gelingt eine »Hebung« dieser Seen dadurch, daß eine Betonmasse unter dem Seegrund (in 21 km Tiefe) eingelassen wird, die den See-Grund gegen den mobilen Erdmantel abschirmt, den See andererseits in Bodennähe drückt, so wäre das Wasser förderbar.
Zur Gründung des gemeinsamen Geschäftsunternehmens kam es nicht mehr. Der Dramatiker hatte jedoch seine Einschätzung des seltsamen Gefährten vollständig verändert. Er sah in Wilde, der etwas so Elementares wie das Wasser auf Seltenheit untersucht, einen poetischen Kollegen. Gern wollte er das Projekt mit einigen Versen unterstützen. Sie blieben bis 5.00 Uhr früh in der Halle. Wenn das Poetische ein Einsammelvorgang ist wie die Beeren- und Kräutersuche, dann zeigt sich die Qualität des Poetischen in der Zähigkeit, Vollständigkeit, Hartnäckigkeit und Leidenschaft der Suche. Es geht um ein Sich-selbst-zwar-vollständig-oder-fast-vollständig-Einsammeln. Eine schwer lesbare Handskizze dazu ist Müllers letztes Werk.
► Die Totenrede (gehalten im Berliner Ensemble) – Link zu YouTube
Ein Dramenentwurf von Heiner Müller: Königin Dido und der Flüchtling Äneas
Zu jener Zeit, ohne kausale Verknüpfung, aber die Zeitgeschichte besitzt Wellenform, und so sind oft nicht-kausal verknüpfte Erzählungen miteinander verwandt, hämmerte Heiner Müller nachts einen Dramenentwurf in seine Schreibmaschine.
Der Anführer des Flüchtlingsstroms aus Troja, Äneas der Schlepper, Unglück an seinen Sohlen, hat die Königin von Karthago verführt. Im Schutz seiner Affäre hat er die Schiffe seiner gestrandeten Flotte neu ausgerüstet. Jetzt will er aufbrechen zu neuen Untaten. Er kann aus der Spur, die ihn aus der zerstörten Vaterstadt in die Ferne führte, nicht weichen. Die Toten treiben ihn.
So bringt er, was er nicht wollte, der schönen Königin den Tod, und aus dem Schwung seiner Taten werden noch 300 Jahre später die Legionäre Roms, seiner Neugründung, die Elefanten der Dido umbringen; und die Stadt Didos, Karthago, wird Trümmerstück für Trümmerstück zu Sand zerlegt sein, ehe Rom endet.
»Wild wie die Umarmung einer Totgeglaubten /
Herzkönigin am Jüngsten Tag!«
Heiner Müller: „Der Zug der verwilderten Geister um den ganze Erdkreis“
Der Dramatiker Heiner Müller starb am 30. Dezember 1995. In den letzten Novembertagen jenes Jahres inszenierte er, auch als ein Projekt zur Abwehr des Todes, eine Folge von Dramen über Trojas Untergang. Die Griechen zerstören das mächtige Troja bis auf den Grund. DIE NACHRICHT DAVON WIRD MIT DER WILDHEIT DER ÜBRIGGEBLIEBENEN KRIEGER ÜBER DEN ERDKREIS GETRAGEN. DEREN ENERGIE (DIE DES SCHRECKENS) GENÜGT, DAS GEWALTTÄTIGE ROM ZU GRÜNDEN. ROMS LEGIONEN UNTERWERFEN GRIECHENLAND. ALS KORINTH REVOLTIERT, WIRD KORINTH VERBRANNT. SO GESCHAH DEN GRIECHEN, WAS SIE TROJA ANTATEN.
Das poetische Auge aber, sagt Heiner Müller, sieht den ZUG DER VERWILDERTEN GEISTER, wie er den Erdkreis großräumig und in Zeitmaßen umrundet, die zwischen Geburt und Tod einzelner Menschen nicht auszumessen sind. Brüllend wie die Sterne, heißt es bei Müller, ziehen die Unglücksboten in der Geschichte umher. Besser, sie wären nie geboren. Gibt es Hebammen, so argumentiert Müller, muß es auch Anti-Hebammen geben, welche die von einem Unglücksort wie Troja ausgehende Fernwirkung hemmen. Nie hätte Äneas das Meeresufer erreichen dürfen! Zerstörte Orte gehören in Quarantäne!
► Dimiter Gottscheff liest aus TITUS ANDRONICUS von Heiner Müller (am Klavier: Sir Henry)
Heiner Müller: Heiner Müller über METAPHERN
Kluge: Man nimmt also den Stock, die Krücke, also die Metapher, ja…
Müller: …und dann gibt es eben das Hebelgesetz und die Metapher trägt dich weiter, als du denken konntest, vorher. Hinterher kannst du dann vielleicht das nachdenken, was die Metapher dir…
Kluge: Wer hat das gesagt?
Müller: Lichtenberg: „Die Metapher ist klüger als der Autor.“
Kluge: Der aus dem 18. Jahrhundert.
Müller: Ja. Und dann gibt es so einen schönen Text von der Gertrude Stein über die elisabethanische Literatur mit dem ganz naiven Satz: „Es bewegt sich alles so sehr.“ Und sie schreibt eigentlich über die Schnelligkeit des Bedeutungswandels in dieser Periode der Kolonisierung. Weil es gab dauernd neue Worte und Worte, die neue Inhalte, neue Dimensionen kriegten durch diese globale Kolonisierung. Und das zeigt die…
Kluge: Im Zeitalter Shakepeares…
Müller: Jaja. Und das hat die Sprache der Elisabethaner so irisierend gemacht, so beweglich. Der Bedeutungswandel…
Kluge: Also die Metapher verlangsamt, sagst du?
Müller: Nein, sie beschleunigt, sie beschleunigt, glaube ich,
Kluge: …sie beschleunigt…
Müller: …Und es bewegt sich alles so sehr, sagt sie; also bei Shakespeare und bei den Elisabethanern. Und dann beschreibt sie auch, wie das dann am Schluß, diese Bewegung langsam aufhört mit der Konsolidierung, also des britischen Imperiums…
Kluge: …und dem Brutalismus…
Müller: …und mit dem Brutalismus. Und dann hört Shakespeare auf zu schreiben. In den letzten Stücken…
Kluge: …verabschiedet er sich…
Müller: …wird die Sprache allegorisch eher, oder…
Kluge: …Ja, Sturm…
Müller: …wird die Art der Mitteilung allegorisch. Und da hört die Beschleunigung auf.
Kluge: Ja. Und die Metapher ist also das Kennzeichen von einer Zeit, die schneller geht, als die Menschen Erfahrungen verarbeiten können.
Müller: Ich hab‘s mal so formuliert, die Metapher ist eine Sichtblende gegen zu viele Eindrücke, die man nicht verarbeiten kann. Und ist so ein Bündelungsinstrument
Aus: „Heiner Müller über Rechtsfragen“, Ten to Eleven, 22.Oktober 1990
Nahe Begegnung zwischen Karl May und Lord Curzon
Wie Luxusdampfer liegen die Grandhotels westlicher Investoren zur Jahrhundertwende über den Orient verteilt. Daß Dr. h. c. Karl May ein Provinzler und daß ihm das Reisen unheimlich war, sieht man daran, daß er sich auf seiner ersten großen Auslandsreise im Jahre 1899, die ihn noch bis Sumatra bringen sollte, von einem solchen Hotelpalast zum nächsten schwang. Ihm war die unübersichtliche, im Lande verborgene Informationsmasse zuviel.
In einem der großen Hotels in Persiens Süden las er in der Gästeliste die Eintragung: Lord Curzon of Keddleston und Frau Victoria. Das schien ihm eine Herausforderung: den berühmten Mann zu treffen, der ebenfalls Gelehrter war, ja ihn in ein legendäres Gespräch zu verwickeln. Er sandte seine Visitenkarte, die auf Dr. h. c. Karl May lautete, in Handschrift darunter gesetzt: HAMMURABIFORSCHER (ein Stück Hochstapelei steckte diesem Mann von seiner Herkunft aus dem Eulengebirge her im Blute).
Von dieser Begegnung, die wenig bekannt ist, hatte der Dramatiker Heiner Müller von einem Oberleutnant im Dienste des MfS gehört, den er in der Kantine des Berliner Ensembles getroffen hatte. Dieser war im Außendienst der DDR auf Horchposten im Jemen tätig gewesen und interessierte sich für persische Literatur. Der Agent hatte in seiner Freizeit die NAHE BEGEGNUNG von Lord Curzon und Karl May recherchiert. Vielleicht könnte man, habe Karl May in seinem Tagebuch notiert, indem man die Probleme des persischen Herrschers Kyros, um 610 v. Chr. debattierte, die derzeitigen Probleme des Nahen Ostens, Irak, Syrien, Bosporus, einer Lösung zuführen. Die beiden Gesprächspartner, Curzon und May hätten, so formulierte es der Oberleutnant zu Heiner Müllers Erstaunen, »Schach des Weltgeistes« gespielt. Nein, das verkennt, daß das Ereignis nicht stattfand, antwortete der Oberleutnant.
► Wolfgang Rihm über seine Zusammenarbeit mit Heiner Müller im Musiktheater
Der Blick des Basilisken
Ich muß, sagt Heiner Müller, um das Prinzip zu erklären, warum Stalingrad einerseits historisch notwendig, andererseits, vom Menschen betrachtet, so überhaupt nicht nötig war, eine Geschichte erzählen.
Der Hauptmann Slopotka, gebürtiger Wiener, wurde durch Schlamperei des militärischen Apparats noch in den ersten Januartagen des Jahres 1943 nach Stalingrad versetzt. Die ihn im Oktober durch Aktenvermerk versetzt hatten, wußten nichts vom Kessel. Im Schneesturm landete er auf dem Flugplatz Pitomnik. Tage zuvor hatte er noch bei Catania im winterlich warmen Mittelmeer gebadet.
Alle Lernprozesse im Kessel von Stalingrad hatte er versäumt. An der Ausmergelung der Körper hatte er nicht teilgenommen. Mit frischem Blick kam er jetzt in den Kessel. Den gleichen Zustand des Mutes hätte eine Fallschirmjäger-Division gehabt, die, mit spezieller Winterausrüstung versehen, reichlich im Besitz von Munition auf der Winterfläche abgesprungen wäre und die Verteidigung von Stalingrad bis Anfang März garantiert hätte.
Slopotka entsetzte der gewissermaßen doktrinäre Glaube der Kameraden ans eigene Unglück, erzählte Müller. Sogleich übernahm er als Transportoffizier den Befehl über den Schneeschippdienst auf dem Hilfsflughafen Stalingradski. Slopotkas Elan, der nur darauf beruhte, daß er aus einem anderen Realitätsstrom hierhergelangt war, übertrug sich auf die kleine Mannschaft.
Am 24. Januar 1943 wurde die von Slopotka eingerichtete Kleinstgruppe überrollt. Die Rote Armee kümmerte sich nicht um den Seelenzustand derer, die sie links oder rechts umging, tötete oder gefangennahm. Slopotkas Leichnam lag in einer Gruppe von Toten, an einen geschichteten Schneehaufen angelehnt, nur dadurch von den übrigen Toten unterschieden, daß die Fettschicht unter seiner Haut noch intakt schien.
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► Heiner Müller über Trojas Untergang
Der Führer der Nachhut, in Troja, der Held Aeneas, trägt das Unglück der Stadt an seinen Sohlen. Er flieht zur Königin Dido von Karthago. Diese stirbt durch ihn. 300 Jahre später sterben auch die Elefanten vor Karthago durch das von Aeneas begründete Rom. Metapher des Dramatikers Heiner Müller.
► „In den Ruinen der Moralität tätig …“
Die „Annalen des Tacitus“ beschreiben die Regierungszeit der ersten Römischen Kaiser. Hierbei sind die Zeiten Neros und seines Großvaters, des Kaisers Tiberius, in der Darstellung von Tacitus durch spezielle Grausamkeiten gekennzeichnet. Heiner Müller über die „Annalen des Tacitus“.
► „Es waren irgendwelche Schattenmaschinen, die da vorbeifuhren“
Der Dramatiker Heiner Müller gehört zum Jahrgang 1929. Bei Kriegsende wurde er noch an der Panzerfaust ausgebildet und als „Werwolf“ geschult. Er berichtet über seine Wahrnehmungen und den Ausfall der Wahrnehmung im sogenannten „Ernstfall“.