Nicht Tier, nicht Pflanze, nicht Pilz: eine soziale Amöbe
Die Amöbe Dictyostela heißt Schleimpilz, ist aber kein Pilz. Die winzigen Amöben sind mit dem bloßen Auge nicht zu sehen. Wenn sie aber der Hunger treibt, finden sie sich zu riesigen Placken zusammen, die im Wald die Wanderer erschrecken. Von dieser Erscheinung, nämlich Milliarden dieser Lebewesen, stammt der Name Schleimpilz.
Prof. Dr. Ralph Gräf, ein Evolutionsbiologe, untersucht seit Jahrzehnten diese Amöbe. Sie besitzt Zellen, die den menschlichen Hautzellen verblüffend ähnlich sind. Die DNA zeigt in dieser Hinsicht partiell mehr Ähnlichkeit mit den Menschen als die Mehrzahl der Primaten, die den Menschen doch in der Evolution näher stehen. Die merkwürdige Amöbe bietet deshalb ein ideales Forschungsfeld für die Heilkunde beim Menschen.
► Dicty, der Schleimpilz (News & Stories, Sendung vom 29.07.2015)
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► Der Tod aus dem Wald
Im 1. Weltkrieg wurden etwa 30 Kinder aus dem Ruhrgebiet, in dem Hungersnot herrschte, auf ein Landgut in der Provinz Posen evakuiert. Am Ende ihres Aufenthalts bereitete die Köchin, die sie betreute, ein leckeres Gericht aus Waldpilzen. Bis auf zwei starben die Kinder: Kriegsopfer.
Ulrike Sprenger, Verfasserin des Proust-ABC und Romanistin an der Universität Konstanz, ist zugleich Pilzforscherin. Sie berichtet von dieser und zahlreichen anderen Geschichten. Alle handeln von jenen Lebewesen, die nicht Tier oder Pflanze sind, die mit ihrem Wurzelwerk, den Myzelien, zu den größten unterirdischen Lebewesen der Welt: den Pilzen. Der Philosoph Hegel sprach ihnen die Eigenschaft als Lebewesen ab, weil er meinte, dass sie nicht denken können. Was aber weiß man wirklich von den Pilzen?
► Darwins Korallen
Die Metapher des „Rhizom“ bezeichnet ein Wurzelwerk. Der „Baum des Lebens“ enthält ein ganz anderes Bild. Für seine Evolutionstheorie hat Darwin nicht dieses Symbol gewählt, sondern das Bild einer Koralle, die er von seiner Reise mit der BEAGLE mitbrachte, in seine Sammlung einfügte und zeichnete.
In Anknüpfung an Darwin sagt Horst Bredekamp, dass Korallen das Absterben und Einwuchern des Überlebens gleichzeitig zeigen. Das Bild der Koralle entwickelt keine Hierarchie, so als entwickle sich das Leben aus Einzellern bis zur Krone des Lebens: den Menschen. Vielmehr, sagt Bredekamp, lateralisiert Darwin. Ein winziger Virus hat die gleiche Chance und Bedeutung wie ein Riesentier oder der Mensch.
► Milliarden Jahre Immunität: toll!
Die Abwehrkräfte in den Lebewesen, die angeborene Immunität, ist genetisch uralt. Ihre Strukturen gibt es seit den ersten Schwämmen und Kleinlebewesen, also seit 1 Milliarde Jahre. Seit Aufkommen der Fische gibt es zusätzlich – als zweites System – weiße Blutkörperchen und eine selektive, erworbene Immunabwehr.
Das ältere und das neuere System funktionieren höchst verschieden. Die Gen-kaskaden, welche die Abwehrkräfte regulieren, wurden vor weniger als 20 Jahren von der Wissenschaft entschlüsselt. Das waren Goldgräberjahre der Evolutions-biologie. Eine Entdeckung, die als besonders toll galt, erhielt den Namen TOLL-REZEPTOREN. Die Drosophila-Fliegen haben davon 9, Menschen 10. Diese Warnsysteme, Wächter der Gesundheit, alarmieren und aktivieren die Abwehrsysteme.
Der Luxemburger Prof. Dr. Jules Hoffmann von der Universität Strasbourg erforscht diese Phänomene vor allem an der rotäugigen Fliege Drosophila. Die Gene, die dem Fliegenembryo sagen, wo in seinem Körper künftig der Magen und wo das Hirn sich befinden sollen, sind denen ähnlich, die bei den Menschen die Abwehr in Gang setzen, z.B. Entzündungen und das Fieber auslösen.
Für seine Forschungen erhielt Jules Hoffmann, gemeinsam mit zwei weiteren Wissenschaftlern, den Nobelpreis für Medizin und Physiologie.
► Kooperation im Tierreich
Zu den erstaunlichen Tatsachen gehört, dass bei Tieren (und vermutlich dadurch auch bei den Menschen) die innerartliche Aggression schwächer ist als die Kooperation. Welche Geschichte haben Verlässlichkeit und soziale Beziehungen in der Evolution? Das hässlichste Tier, die Nacktmulle, weißlich, rosa, zahnstark und praktisch blind, kann als das kooperativste und sozialste Tier gelten. Auch Wölfe sind untereinander kooperative Jagdgenossen, auch wenn sie zur Beute hin aggressiv sein können. Welche Tiere sind durch den Menschen bestechlich, welche nicht? Hunde sind so domestiziert, dass sie leicht zum Gehorsam zu verführen sind. Katzen dagegen bleiben auch gegen Belohnungen immun und eigensinnig. Als das eigensinnigste Tier kann die Oryx-Antilope gelten. Sie ist überhaupt nicht domestizierbar und durch nichts zum Gehorsam zu bringen: ein Einzelgänger an und für sich. Dieses Tier wäre in Ägypten und im Nahen Osten ein ideales Haustier gewesen. Es braucht wenig Wasser und ernährt sich auf der Futtersuche stets selbst. Es schmeckt köstlich. Die Domestizierung misslang vollständig. Die Sage vom Einhorn bezieht sich auf diese Ory-Antilope.
Der Evolutionsbiologe Prof. Dr. Joseph H. Reichholf entfaltet ein buntes Kaleidoskop über die Evolution der Zusammenarbeit im Tierreich.