Sokrates oder das Glück der Bescheidenheit, Voltaire oder die Freiheit durch Toleranz, Kleist oder das Wissen um den Menschen, Terror oder die Klugheit des Rechts, Politik oder das Lob der Langsamkeit: Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge unterhalten sich über Grundfragen des Rechts und der Gesellschaft, über Theater und Literatur, über die Gefahren der direkten Demokratie und der sozialen Medien und darüber, was den Menschen im eigentlichen Sinn menschlich macht.
„Die Herzlichkeit der Vernunft“ ist ein sehr persönlicher Dialog der beiden Schriftsteller.
Sehen Sie dazu auf dctp.tv:
► Der Prozess des Sokrates
In Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern widmete Ferdinand von Schirach in Berlin dem Tod des griechischen Philosophen Sokrates einen starken musikalisch-poetischen Abend.
Von dem Prozess des Sokrates berichten unabhängig voneinander seine Schüler Platon (in seiner „Apologie“) und Xenophon. Auffällig, sagt Ferdinand von Schirach, ist es, wie ungeschickt der Philosoph sich vor dem Gericht verteidigt. Er hätte sich auf eine zwei Jahre zuvor, bei Sturz der Aristokratie und dem Sieg der Demokraten, verkündete Amnestie berufen können oder auf die Meinungsfreiheit. Dann hätte er freigesprochen werden müssen. Stattdessen provoziert er das Gericht, das aus 500 Richtern besteht, einer Art Volksversammlung. Schon seit dem Theaterstück „Die Wolke“ von Aristophanes, in dem er als Spottfigur auftaucht, läuft ein „shitstorm“ gegen den Philosophen. Er hatte enge Verbindung zur aristokratischen Partei, die den Demokraten verhasst war.
Nach athenischem Recht kann das Gericht entweder dem Antrag der Kläger (Todesstrafe) oder dem Gegenantrag des Angeklagten folgen, ein Drittes gibt es nicht. Sokrates hätte z.B. auf Verbannung plädieren und so die Todesstrafe vermeiden können. Er aber verlangte statt Strafe eine Belohnung.
In der Nacht nach dem Todesurteil sitzt der Philosoph im Kreise seiner Getreuen. Er opfert dem Arzt-Gott Asklepios einen Hahn und trinkt den Giftbecher bis zur Neige. Die Kunst hat diesen Augenblick viele Mal festgehalten. Eine stoische Haltung: Lieber stirbt er, als falsch zu leben. Die Haltung ist mit der Grundfrage nach dem Sinn des Lebens verknüpft und eine moderne Basis für den dichterischen Blick.
► Das Böse und das Kriminelle
Mit seinem Bestseller VERBRECHEN hat der Anwalt Ferdinand von Schirach auf Anhieb seinem juristischen Rang einen hohen literarischen Rang hinzugefügt. Noch in diesem Jahr erhält er den renommierten Kleist-Preis (Kleist-Preisträger sind z.B. Bert Brecht und Robert Musil). Wir haben diesem Autor und Anwalt die Frage vorgelegt: Gibt es das Böse? Ein Jurist philosophiert nicht, antwortet von Schirach, sondern er urteilt. Es geht ihm um die genaue Unterscheidung von „BÖSE“ und „KRIMINELL“.
Alle Dinge sind wie sie sind, sagt Aristoteles. Sie gehorchen nicht den Begriffen. Man kann klar definieren, so von Schirach, durch welche Taten einer sich außerhalb des Gesetzes und zuletzt außerhalb der Gesellschaft stellt. Ganz schwer zu begreifen und zu definieren ist dagegen jene negative Grundströmung des Unheimlichen, das wir das Böse nennen und das wie ein SCHATTEN DER NATUR auf uns Menschen liegt.
► Aus dem Alltag eines Strafverteidigers
Ferdinand von Schirach ist Strafverteidiger in Berlin. In seinem Bestseller „Verbrechen“ hat er Fälle aus seiner unmittelbaren Erfahrung nacherzählt. Ein brillantes Beispiel dafür, wie einfallsreich und phantastisch die Wirklichkeit erzählt. Schon Heinrich von Kleist, E.T.A. Hoffmann, Franz Kafka, Goethe und Ingeborg Bachmann waren Juristen und zugleich Erzähler.
Außerdem geht von Schirach auf juristische Konzepte von Wahrheit oder auf die Problematik der Prävention in manchen Fällen ein: Wahr ist nur, was sich mit den Mitteln des Strafprozessrechts nachweisen lässt. Und wie sieht Prävention etwa im Fall seines früheren Mandanten Günter Schabowski aus? „Baue keine Mauer mehr?“
► Schirachs „Tabu“
Ferdinand von Schirachs Buch „Verbrechen“ handelt von Fällen, die er aus seiner Anwaltstätigkeit kannte. 2013 publizierte er einen Roman mit dem Titel „Tabu“. Auch hier zeigt sich seine enorme Erfahrung aus den Gerichtssälen.
Es geht um den Hamlet-Stoff als eine moderne Kriminalgeschichte. Der Held verliert seinen Vater und muss miterleben, dass die Mutter unter Niveau neu heiratet. Es kommt zu einem vertrackten Tatbestand, einem „Mord ohne Leiche“. Für den Helden geht es um eine „Ermittlung gegen sich selbst“. Wer bin ich? Für den Autor geht es zugleich um den Prozess der Wahrheitsfindung und um die ihn nachdrücklich interessierende Verteidigung des Rechtsstaats, die vor allem in der Grauzone der Sachverhalte eine Herausforderung erhält.
► Gericht über Gott
Die Russische Revolution war nach 1917 mit dem Analphabetismus in Russland konfrontiert. Es wurden Alphabetisierungskampagnen begleitet von der Elektrifizierung Sibiriens in Gang gesetzt. Die Revolutionsregierung sah aber rasch, dass sie ihre Ansätze nicht in Schriftform und nicht in Form von Paragraphen ins Volk bringen konnte. Die sogenannte „Proletkultbewegung“, die zeitweise mehr Mitglieder aufwies als die Partei, veranstaltete deshalb GERICHTSTHEATER. Auf improvisierten Bühnen wurden die neue Zeit, die neuen Gesetze und Regeln und die zu bekämpfenden Missstände abgehandelt: revolutionäres Gerichtstheater. Eine Vorführung davon im Jahr 1926, „Gericht gegen ein Kurpfuscherin“, beschreibt Walter Benjamin in seinen Moskauer Tagebüchern.
Diese Gerichtstheater verbanden Unterhaltung, Volksbelustigung und Erziehung. Es gab „Gericht gegen Lenin“ (das für diesen positiv ausging), „Gericht gegen einen Erntedeserteur“ oder ein „Gericht über Gott“ und Tausender anderer Gerichtsfälle. In der Gerichtsverhandlung diente das Publikum als Richter, ähnlich wie im jüngst aufgeführten Drama „Terror!“ von Ferdinand von Schirach. In dem „Gericht über Gott“ bestand das Volksvergnügen darin, dass offensichtlich keine ladungsfähige Anschrift für den Angeklagten ermittelt werden konnte. Wenn es ihn nicht gibt, kann er auch nicht verurteilt werden. Am Ende werden an seiner Stelle ein Mullah, ein Rabbi und ein orthodoxer Pope angeklagt.
In der frühen Phase der Revolution, in der diese Form des Gerichtstheaters üblich war, ist man weit entfernt von den Schrecken der Schauprozesse. In ihnen macht sich die Wirklichkeit zum Theater, anstatt dass das Theater die Wirklichkeit abbildet. Dies in grotesker Umkehrung dessen, was das spielerische Gerichtstheater einst war.