„Verirrt in einen einzelnen Tag, den ich selbst mit 13 Jahren miterlebt habe und den ich zu kennen glaubte, fand ich mich, je mehr ich darüber schrieb, in einer ganz unvertrauten Welt.“
Alexander Kluge
Er wünschte sich, nach Hause zu kommen
Noch immer der alte Hochmut. Verpackt in seinem Militärmantel, körperlich intakt, ja pausbäckig. Auch verfügte er über einen Wagen mit Fahrer. Die Schuld, die er in sich trug, war ihm nicht anzusehen.
Er bewegte sich vorsichtig, vom Waldrand her näherte er sich dem Grundstück, dem eigenen Haus. Als er es übersehen konnte, hielt er inne. Lange wartete er. Jetzt kamen die Kinder heraus, spielten im Hof und im Garten. Er sah ihnen lange zu. Auch sah er seine Frau, die sich zur Stadt aufmachte. Gern hätte er geduscht, die Kleider gewechselt, Frau und Kinder umarmt. Er durfte sich nicht zeigen. Seine Gegenwart würde die Familie kontaminieren, er konnte auch nicht ausschließen, daß das Grundstück eine Falle darstellte, wo ihn die Häscher bereits erwarteten. Vielleicht beobachteten sie wie er dasselbe Haus. Als er zum Fahrzeug zurückkam, empfand er stark, daß er diesen Ort nicht wiedersehen würde. Falls er lebendig durchkam auf dem Fluchtweg, den die Kameraden vorbereitet hatten, war er auf unabsehbare Dauer durch einen Ozean von dem, was ihn nochmals so gewaltsam angezogen hatte, getrennt.
Der 30. April 1945: Der Tag, an dem Hitler sich erschoss
Am 30. April, einem Montag, wollte jeder, der es vermochte, in westliche Gefangenschaft gelangen. An diesem Tag entstand die Westbindung der Deutschen, die sich später im Wirtschaftswunder auswirkte.
„Warum stößt die US-Armee Ende April 1945 zu den Alpen vor und nicht nach Berlin?“
dctp.tv im Gespräch mit dem Militärhistoriker Oberstleutnant Dr. John Zimmermann.
In der Sieben-Hügel-Stadt San Francisco
In keiner Weise, heißt es in der Neuen Zürcher Zeitung vom 29. April 1945, könne man die Sieben-Hügel-Stadt San Francisco mit der Sieben-Hügel-Stadt Rom, von der ein Imperium ausgegangen war, oder mit Versailles vergleichen, wo der Völkerbund beschlossen wurde. Die Delegationen von 51 Nationen, welche zunächst die UNO bilden, tagen in zwei großen Hallen, die das Konferenzzentrum darstellen. Tatsächlich aber finden solche Vollversammlungen selten statt. Der diplomatische Verkehr erfolgt zwischen den vier Großmächten und den Delegationschefs der übrigen Staaten.
Eine indische Abordnung, an deren Spitze Pandit Nehru steht, hat sich in einem Hotel niedergelassen. Diese Gruppe, nicht akkreditiert, wird von britischen Geheimagenten eng und auffällig beobachtet. Ihre Kommunikation mit den anderen drei Großmächten und den Delegationen anderer einflußreicher Staaten soll gestört werden. Die britischen Agenten werden wiederum beschattet von US-Agenten und sehen sich dadurch daran gehindert, auf US- Boden illegale Mittel zur erwünschten Vertreibung der »indischen Gäste« anzuwenden. Aus den Dienststellen des ehemaligen Völkerbundes (dessen Statut allerdings formell bis zur endgültigen Gründung der Vereinten Nationen in Kraft ist) sind Beamte, auch frühere Generalsekretäre, anwesend. Gemeinsam mit dem Idealisten Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi bilden sie ein Personal, das dem modernen, pragmatischen, vom Krieg geprägten Politikertyp nicht entspricht. Die Leitung des Kongresses liegt bei Geschäftsmännern, die nüchtern und zielbezogen agieren wie Paul-Henri Spaak, Georges Bidault, Eelco van Kleffens. Neuerung geht von ihnen nicht aus.
„Kriegsende. Abends Kartoffelsuppe“
dctp.tv im Gespräch mit dem Militärhistoriker Prof. Bernhard Kroener . „….Man klammert sich an die Restbestände eines geordneten Lebens…“
Wie spielt man Hitler?
dctp.tv im Gespräch mit Martin Wuttke, der Hitler in Quentin Tarantinos Film „Inglorious Bastards“ spielte.
Totenehrung der Wörter
Die Mehrheit der Stenographen des Führerhauptquartiers befand sich in Berchtesgaden, wohin sie von Berlin aus evakuiert worden waren, in Bereitstellung. Die wertvollen Schreibkräfte domizilierten im Gartenhaus eines Grundstücks, das an die Gebäude des OKW angrenzte. Den ganzen Montag über waren sie damit beschäftigt, in einem Waldstück ein Feuer zu nähren, indem sie die Protokolle verbrannten, die von ihnen in der Zeit seit Winniza 1942 regelmäßig angefertigt worden waren. Geheimsachen durften nicht in die Hände der Alliierten fallen. Die Handlungsweise war verantwortungsvoll, sie konnte andererseits aber auch als defätistisch aufgefaßt werden. Immerhin wurden hier Originale, welche die in Sitzungen geäußerten Führerworte sämtlich enthielten, in einer Weise vernichtet, als stehe der Ausgang des Krieges definitiv fest. Über 3000 Stunden Abschrift! Das tat den Meistern der Kurzschrift weh.
Studienrat a. D. und Reichstagsstenograph Hängst, einer der schnellsten Stenographen des Reiches, ging um die Feuerstelle herum und achtete darauf, daß in der Übergangszone zum feuchten Grasboden, auf den es in der Nacht noch geschneit hatte, nichts Halbverbranntes übrigblieb. Große Tote wurden bei den Wikingern auf einem Schiff aufgebahrt und dieses in Richtung Sonnenuntergang auf See geschickt, nachdem es in Brand gesteckt worden war.
„Hitlers letzte Station“
dctp.tv im Gespräch mit dem Unterweltforscher Dietmar Arnold über Wirklichkeit und Legende des Führerbunkers.
“Was weiß man vom toten Führer wirklich?“
dctp.tv im Gespräch mit dem Kriminalbiologen Dr. Mark Benecke, der Adolf Hitlers Schädeldecke und Gebiss in Moskau untersuchte.
Die Geschichten sind Alexander Kluges Buch
30. April 1945 – Der Tag, an dem Hitler sich erschoß und die Westbindung der Deutschen begann
entnommen, das 2014 im Suhrkamp Verlag veröffentlicht wurde und gerade als Taschenbuch erschienen ist.
Der 30. April 1945, ein Montag, letzter ausgeübter Werktag des Deutschen Reiches. Ihm folgen ein Feiertag und der Übergang von Resten einer Staatsgewalt in Hände, die das einwöchige Niemandsland bis zur Kapitulation nicht mehr steuern. Es ist ein Tag voller Widersprüche und verwirrender Lebensgeschichten. In Berlins Mitte toben heftige Gefechte, die Rote Armee nimmt die Stadt in Besitz, Hitler erschießt sich. Scheinbare Idylle dagegen in der Schweiz. In San Francisco formieren sich die Vereinten Nationen. Alexander Kluge beschreibt in seinem Buch lokale und globale Verhältnisse. Es geht um das Leben in einer kleinen, von amerikanischen Streitkräften schon besetzten Stadt, um den Takt der Haarschnitte, aber auch um Ereignisse rund um den Erdball, darunter die Geschichte zweier SS-Männer auf einer Kerguelen-Insel. Die Frage, die sich überall und unwiderruflich stellt: Wie soll man auf den Umsturz der Verhältnisse angemessen reagieren? Martin Heidegger etwa, in der Abgeschiedenheit von Burg Wildenstein, greift auf Hölderlin zurück…
Die Erfahrungen aller Lebensgeschichten, die vom 30. April 1945 ausgehen, reichen bis zu uns: In ihnen spiegelt sich, 69 Jahre danach, bereits auch die Gegenwart.
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Am 30. April 1945 gegen 15.30 Uhr starb Adolf Hitler durch eigene Hand. Dieser einzelne Tag, ein Montag, schrieb aber Geschichte auch in vieler anderer Hinsicht. Ab diesem Tag verdichten sich die 12 Jahre des Dritten Reichs wie in einem Zerrspiegel: Überall setzen sich die Menschen, die Institutionen, die Fakten in Bewegung. Es ist ein Tag positiver Anarchie. Es ist auch der Tag, an dem die West-Bindung der Deutschen entstand. Über die Elbe hinweg strebt jeder nach Westen, um vor den Amerikanern zu kapitulieren und nicht vor den Russen.