Thema: Gas – die scheußlichste Tötungsmethode der Welt

Giftgasanschlag in Syrien, 2017. (Vermutlich Sarin.)

Filme und Texte von Alexander Kluge

 

► Anselm Kiefer, Maler, ließt das „Gaskampflied“

„Schnee über Venedig“

(nach einem Vers von Ben Lerner)

In dichten Flocken fiel Schnee auf die Stadt. Vor Stunden noch eisig, war er jetzt zu warm, um auf den Dächern der Palazzi Halt zu finden. Das grüne Wasser der Lagune verzehrte den Schnee rasch.

Das war kein arktischer Schnee. Dieser Schnee über Venedig kam aus Afrika. Kalter Zorn war in der Gebirgszone aufgestiegen, in denen französische Pioniere, ausgebildet als Reparateure von Autokarosserien, laienhaft in Bezug auf Giftgas, die Höhlen, in denen sie Tuareg-Rebellen vermuteten, aus ihren Kanistern besprühten. Die Klagetöne der Frauen, die sie umgebracht hatten, lagen ihnen die ganze Nacht hindurch, unstillbar, unabstellbar, in den Ohren, raubten den müden Soldaten Frankreichs den Nachtschlaf. Von den Totenhöhlen aber stieg Zorn zum Himmel, verharrte unterhalb der Stratosphäre, die warme Strömung beherbergt, zog nach Norden und gelangte als Wetterwunder über die Lagunenstadt, ein Seelenzustand, der erst über der tausendjährigen Stadt wie Tränen sich in Regen verwandeln, wieder in Berührung zur Erdoberfläche geriet. Kalter Zorn. Daß der Schnee taute, täuscht.

 

► Gas! „Wie eine Vielzahl leiser Pfiffe“

Zu den Schocks des 20. Jahrhunderts gehört der Gaskrieg. Daß menschlichen Lebewesen wie Ratten der Atem genommen und die Haut verätzt wird, gehört zu den sinnlich nicht faßbaren Ereignissen.

“Sarin nachts auf der Donau”

Nächtlich an der Donau fuhren im April 1945 Lastkraftwagen an Flußkähne heran, die im Uferdickicht versteckt lagen. Fässer wurden auf die Kähne geladen. Die Fässer waren unbeschriftet. Die Kapitäne der sechs Flußfahrzeuge legten noch in der Dunkelheit Kilometer für Kilometer auf der Donau zurück, flußaufwärts. Sie sorgten für Abstand zum Ostfeind.

Erst Jahre später erfuhren die Beteiligten, daß sie die Nervengase Tabun und Sarin dem Zugriff des Feindes auf dem Strom hatten entziehen sollen. Tagsüber sollten sie auf einem Nebenarm der Donau unter überhängenden Zweigen Schutz suchen.

Chemische Struktur des Giftgases Sarin

– Äußerst gefährlich.

– Dies war eine der Wunderwaffen, von denen so viel gesprochen wurde. Das tückische Gas wirkt auf die Nerven und konnte binnen Sekunden Menschen töten.

– Wenn man eine Methode gewußt hätte, es wirksam zu versprü­hen.

– Wie man es versprühen sollte, war nicht klar. Eine Zeitlang hieß es, Flugzeuge sollten das Gas über London absprühen, sozusa­gen mit umgebauten Rasensprengern.

– Die wahrscheinlichste Kontamination entsteht bei einem Un­fall, wenn das Gas transportiert wird.

– Deshalb war ja das Herumtransportieren in der Nacht so gefährlich.

– Vom Führer so angeordnet. Noch immer empfand er ein gehei­mes Grauen bei der Erwähnung von Gas.

– Es war aber kein Gas im Sinne des Ersten Weltkriegs, sondern neues Teufelszeug.

 

► Clara Haber

Clara Haber protestiert gegen den Gaskrieg, indem sie sich erschießt. Aus dem Drama Sommer 14 von Rolf Hochhuth.

Der Erfinder des Blitzkriegs

Der Erfinder des Blitzkriegs hieß Oskar von Hutier. Kommandeur der deutschen 8. Armee, die 1917 die Offensive auf Riga vortrug. Den Führungsgehilfen Hutiers gelang der einzige Giftgas-Angriff, der durchschlagenden Erfolg hatte. »Erstmals kam den deutschen Waffen zugute, daß sie in Richtung der Westströmung des Wetters angewandt werden konnten.« Die russische Front wurde durchbrochen, der erblindete Feind, soweit er noch atmete, war nicht bereit, sich erneut zu versammeln. Von Hutier behielt noch 16 000 t Giftgasmunition übrig.

 

 

»Eisessen bis zur Vergasung«

Populärer Ausdruck, üblich in der Stadt Frankfurt am Main im Jahre 1928. Von Theodor W. Adorno mitgeteilt. Der Philosoph und Soziologe deutet den merkwürdigen Satz als eine VERSCHIE­BUNG von Erlebnissen des Ersten Weltkriegs, des Gaskriegs vor Verdun und an der Somme, auf ein entgegengesetztes Bild: Das Schockbild wird ersetzt durch ein Genußmittel: Speiseeis, das als Erleichterung empfunden wird. Auf­fällig, so Adorno, sei der lange Zeitraum zwischen erlebtem Schreckensbild und Umsetzung in Alltagsjargon. Dagegen – so betont er Max Horkheimer gegenüber – gehe es bei dem Ausdruck nicht um eine Vorausahnung der Ver­gasung in Auschwitz.

 

► Das Jahr 1929. Mit Hans Magnus Enzensberger

► „Wer die Massaker nicht erinnert, pflegt sie.“ Ernst Jünger