Neu im Catch-up Service: Pfeile, die ins Auge treffen


Romeo Castellucci inszeniert Wagners TANNHÄUSER an der Bayerischen Staatsoper München
Wagners frühe Große Oper TANNHÄUSER enthält bereits alle Elemente, die ihn in seinen späteren Werken beschäftigten: seelischen Zwiespalt, ketzerische Abgründe, Buddhismus, Fluch und Erlösung. Trotzdem war Richard Wagner mit seinem Werk, das er mehrfach umarbeitete, nie zufrieden. Unmittelbar vor seinem Tode äußerte er: „Ich schulde der Welt noch einen TANNHÄUSER“. Gerade eine solche Baustelle, ein Rohbau, enthält für uns im 21. Jahrhundert offenes Material, in dem sich spannende Fundstücke finden.
Der Regisseur Romeo Castellucci hat an der Bayerischen Staatsoper dem TANNHÄUSER eine überraschende neue Deutung gegeben. In seiner Inszenierung sind Raum und Zeit ebenso wichtig wie die handelnden Personen. Es geht ihm um die Anfänge der Menschheit. Eine Welt 40.000 Jahre vor Christus, mit der „Venus von Willendorf“, trifft auf eine mittelalterliche Adelsgesellschaft, die ihre Brutalität im Gewande der Kunst vorführt. „Worte sind wie Waffen.“ Die Minnesänger und Ritter sind in dieser Inszenierung zugleich Künstler, Kopfjäger und Bluttäter. Tannhäuser wird mit dem Blut eines erlegten Hirschen für die Aufnahme in die Gruppe getauft. Mit gleicher Gewalt wird er dann beim ersten freien Wort aus dem Kreis der Zivilisierten vertrieben.
„Erst als Sternenstaub finden die Liebenden, Tannhäuser und Elisabeth, zueinander.“ Eine zentrale Rolle spielen in der Oper die Pfeile, von jungfräulichen Amazonen geschossen. Die Pfeile treffen Auge und Ohr zielgenau. Aber – wie in der Paradoxie des antiken Philosophen Xenon – bleiben sie auch zwischen Schützinnen und Ziel in der Luft bewegungslos stehen. „Ein Weg, der seine Richtung ganz verloren hat.“
Anja  Harteros und Klaus Florian Vogt als Elisabeth und Tannhäuser in stimmlicher Hochform. Eine Glanzleistung der Ära Bachler.
► Pfeile, die ins Auge treffen (10 vor 11, Sendung vom 04.09.2017)


Sehen Sie dazu auch auf dctp.tv:

► Richard Wagner: Ankunft an den schwarzen Schwänen
Am Piano: Tobias Koch


► Liebe ist härter als Beton
Seit mehr als 25 Jahren arbeitete die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin unter der Leitung von Frank Castorf als eine Brutstätte für überraschende Begabungen, innovatives Theater und interessante Grenzüberschreitung. Regisseure wie Christoph Schlingensief, Heiner Müller, der Intendant Frank Castorf selbst, Christoph Marthaler, René Pollesch und Herbert Fritsch haben an diesem Haus ihre (sehr verschiedenartigen, bunten) Spuren hinterlassen. Ein Zentrum der Arbeit sind die ganze Zeit über die Werkstätten.
Im September wird die Leitung des Hauses wechseln. Zum Abschied ein intensiver Blick in die Werkstätten: die Schlosserei, die Tischlerei, die Kostümabteilungen, den Fundus und das aktive Geschehen hinter der Bühne, das die Zuschauer nicht sehen. Dazwischen, ebenfalls zum Abschied, legendäre Aufführungen wie PARISER LEBEN von Jaques Offenbach in der Regie von Christoph Marthaler, DIE MEISTERSINGER VON BERLIN mit Bernd Schütz als Hans Sachs und einer Besetzung, wie es der Pariser Werkstatt Offenbachs entspricht, von sieben Musikern und sechs Sängern und Schauspielern: Richard Wagner wird in dieser skelettierten Form (ohne die 196 Orchestermitglieder in Bayreuth) erst richtig schön. Das Bühnenbild vom aufrührerischen Jonathan Meese. Von René Pollesch die Erfolge SCHMEISS DEIN EGO WEG und der TRAVIATA-CHOR mit Sophie Rois in der Zweigstelle der
Volksbühne im Prater-Garten. Von Christoph Schlingensief Ausschnitte aus seiner drei Tage währenden Mammut-Revue LOVE PANGS – DER SCHMERZKONGRESS. Von hier beginnt die Opernkarriere Schlingensiefs, die ihn mit dem PARSIFAL nach Bayreuth und dem FLIEGENDEN HOLLÄNDER bis Brasilien führt. Sophie Rois spricht über „Liebe härter als Beton“.
Dieses Theater ist eine authentische Alchimistenküche für „Neuerung auf dem Theater“.
Ein Doppelprogramm von 90 Minuten als Adieu.


► Mozart hat sich nie das Ohr abgeschnitten
Die Herzen der Welt bewegt schon immer die Musik: von den Beatles über die italienische Oper bis zu Richard Wagner. Regelmäßig sieht man Thomas Gottschalk und seine elegante Frau in Bayreuth und auf den Salzburger Festspielen. Der Abenddress immer etwas aus der Reihe tanzend.
Heute: Thomas Gottschalk im Opernhaus. Jonas Kaufmann singt in MANON LESCAUT von Giacomo Puccini die Tenorrolle. Es geht um ein Paar, einen Fall von Liebe auf den ersten Blick. Das Glück endet tödlich in der Wüste.
Was würde Thomas Gottschalks Mutter, Rutila Gottschalk, geboren 1922, von „Liebe auf den ersten Blick“ halten? Gar nichts. Und doch gehört Plötzlichkeit zum Gefühl. Andererseits: manche Liebe wächst über die Jahrzehnte. Gottschalk ist immer noch mit derselben Frau verheiratet.
In Richard Wagners PARSIFAL sendet eine Mutter ihren Sohn als Narren in die Welt, damit er nicht so wird wie die üblichen Helden. Ist Wagners Parsifal ein Volltrottel oder ein „Menschentyp neuer Art“? Von dem neuesten Parsifal, der im Weißen Haus regiert, sagt Gottschalk: „Mir ist so viel Unbefangenheit an exponiertem Ort unheimlich.“ Er selbst wäre nicht gern U.S.-Präsident. „Obwohl ich befürchte“, fügt er hinzu, „dass ich gewählt worden wäre“.
Kultur und Entertainment haben gemeinsam, dass sie nur gut sind, wenn sie überraschen. Für Gottschalk, den amtlich ausgebildeten Deutschlehrer, gilt dabei die Dramaturgie der Schulpause, nicht die der Schulstunde. Wäre er Kultusminister, würde er sämtliche Ministerialräte an die Front schicken: Deutschunterricht für Syrer. „Besser noch, wenn wir Deutschen Syrisch lernen.“
Ich brauche das Lachen, sagt Gottschalk, um das Leben erträglich zu finden. „Kunst und Kultur brauchen haben für mich keine Leidensmiene.“ Man muss sich auch nicht, wie Vincent van Gogh, das Ohr abschneiden, um seine künstlerische Phantasie auszuleben. Gottschalk: „Mozart hat sich nie das Ohr abgeschnitten!“
Über Liebe, Mutterwitz, aktuelles Geschehen und Musik. Auf der Hinterbühne eines Opernhauses nachts um halb eins. Begegnung mit Thomas Gottschalk. Spannend und informativ.