100 Jahre Verdun

18 Texte und 14 Filme von Alexander Kluge sowie ein Filmbeitrag von Heinz Bütler

Verdun

 

Das Projekt Verdun1916, DIE LÄNGSTE SCHLACHT DER WELT, ist (wie der Untergang der TITANIC 1912 und der Kriegsausbruch von 1914) ein starkes Beispiel für eine Navigation, der man nicht vertrauen soll. Glücklich, wer nicht dabei war.
„Schlafwandler“, Fanatiker, Eisenfresser und Systematiker – alles, was die Verlässlichkeit stört, ist in diesem Drama zu finden. Die großartigen Pläne, mit denen die Offensive bei Verdun beginnt, sind nach zwei Wochen schon das Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Und doch hat keiner den Mut aufzuhören. Für beide Seiten, die deutsche und die französische, gilt: niemand schert sich um die Opfer.

Alexander Kluge kl

Die deutsche Offensive beginnt aus Gründen des Wetters um eine Woche verspätet. Nach drei weiteren Wochen steht fest, dass die Schlacht nicht zu gewinnen ist. Dennoch zieht sie sich zäh über weitere 260 Tage und Nächte hin. In den Jahren nach dem 1. Weltkrieg wird in der Memoiren-Literatur der damals führenden Generäle versucht, dem aussichtlosen Kampf einen Sinn zu geben: „Die Blutpumpe von Verdun“. Die deutsche Armee will den Franzosen so viel Verluste zufügen, dass das Land die Waffen streckt. Die neueste Forschung geht dahin, dass dies Ausreden waren.
Wer heute in Bezug auf die Ost-Ukraine, in Bezug auf Syrien oder die Spratley-Inseln von Krieg spricht, hat die Erfahrungen von Verdun nicht verstanden.

Alexander Kluge

 

► Vorsicht beim Betreten des Kampfgeländes

100 Jahre Verdun
 

Im Kriegsjahr 1915 hatte sich gezeigt, dass weder die Mittelmächte (Deutsches Reich und k.u.k.-Monarchie) noch die Entente (England, Frankreich, Russland) einen Sieg erringen konnten. Vernünftige Menschen hätten zu spätestens zu Weihnachten 1915 den Krieg beendet. Stattdessen planten beide Seiten gigantische, zusammengefasste neue Initiativen für das Jahr 1916. Die deutsche Führung verfolgte den ungewöhnlichen Gedanken, die französische Front an deren STÄRKSTER STELLE anzugreifen.

Die Festung Verdun besaß einen hohen Symbolwert. In dieser Stadt hatten sich die Enkel Karls des Großen durch den Vertrag von Verdun einst auf eine Zerteilung des Reichs geeinigt, aus dem später das rivalisierende Frankreich und das Deutsche Reich hervorgingen.

Die neueste Forschung besagt, dass eine Einnahme von Verdun und ein Durchbruch durch die französische Front, hätte man am geplanten Angriffsdatum in der zweiten Februarwoche festgehalten, Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Der Angriff wurde verschoben, weil das Wetter auf den geplanten Artillerie-Einsatz nicht passte.


Kein Angriff im Nebel

Am 12. Februar 1916, dem für den Angriff auf Verdun festgesetzten Tag (noch war alles ungeschehen), fuhr ich mit zwei Ordonnanzoffizieren an die Front. Die Landschaft lag in undurchdringlichem Nebel.

– Das kann von Vorteil sein. Die Verteidiger sehen nichts.
– Sie meinen, daß wir nach Kompaß angreifen sollen? Die Truppe besitzt keine Kompasse.
– Sie müssen nur geradeaus, immer nach Westen stürmen.
– Es gibt keine Erfahrung in Bezug auf Nebelangriff. Das ist nicht geübt worden.
– Deshalb sage ich ja: es kann einen Vorteil enthalten.

 
Verdun

 

Die Truppe hockte wartend in den nassen Stollen

Die deutsche obere Führung war in den Kategorien der »Klarheit« und der »bewußten Entschließung«, also »rational«, ausgebildet. Sie traute keinem »ungefähr«.

– Wir hätten an diesem Tag dennoch angreifen müssen. Wie Gespenster wären die Unsrigen aus dem Nebel aufgetaucht.
– Und die Artillerievorbereitung? Hätten wir ins Blinde schießen sollen?
– Man schießt ohnehin nach Planquadraten.

Wie gesagt, wurde der Angriffsbefehl an diesem Tag zurückgenommen. Ich blieb bei der Truppe, die in ihrer Masse im Stollen zusammengedrängt war, in dem sie hauste und schlief.

– Und wieso nehmen Sie an, daß die Angriffstruppen ihren Weg gefunden hätten?
– Weil sie auf den Feind gestoßen wären.
– Woran sollte man im Nebel einen Feind erkennen?
– Wer hinter mir ist, ist Freund. Wer vor mir ist, ist der Feind.

Es war aber im Nebel weder das »vor mir« noch das »hinter mir« sicher auszumachen. Bei tastendem Vorgehen in den Nebelschleiern, Führung nur in den Füßen, neigten die Soldaten, wie sich bei späteren Anlässen zeigte, dazu, Kreise zu schlagen und die Richtung zu verwechseln. Es hätte tatsächlich ein Durcheinander entstehen können.

– Ja, aber ein Durcheinander, das sich allmählich schrittweise nach Westen hätte lenken lassen. Wir besaßen Leuchtkugelgeschosse aus Magnesium. Sie hätten zwar keine Sicht, aber Signale vermittelt.
– Die Geschosse waren in Frontnähe vorrätig?
– Man hätte sie heranschaffen müssen.

 

► Es ist noch Winter, als der Angriff beginnt

100 Jahre Verdun
 

Orkane fegten den Nebel hinweg, Regengüsse

Zu diesem Zeitpunkt hielt der Gegner einen Angriff an dieser Front noch für unmöglich. Angriffe aus dem Nebel hielt er ohnehin für ausgeschlossen. Die Männer waren unruhig. Unbewußt zogen sie den geplanten Angriff einem in die Zukunft verschobenen vor. Sie votierten für ein »Ende mit Schrecken« gegenüber dem »Schrecken ohne Ende«, der dann folgte. Anders als die obere Führung in ihren Kartenräumen (meist ausgeräumte Eßzimmer und Salons) bezogen sie die VORAUSAHNUNG in ihre Gedanken mit ein.
Am folgenden Tag war alles schlechter. Orkane fegten den Nebel hinweg. Regengüsse. Die Gräben liefen voll Wasser. Die Angriffstruppe entledigte sich ihrer nassen Uniformen, in der Hoffnung, an offenen Feuern die Kleidungsstücke trocknen zu können. Das sahen die feindlichen Beobachter mit ihren Ferngläsern: unerwartete Massen deutscher Infanterie oberhalb der Angriffsgräben. Jetzt war der Angriff nicht mehr geheim.
Erst am 20. Februar schlug das Wetter um. Ich hatte dem Stab weit hinten viermal am Tag berichtet. Wintersonne, wolkenloser Himmel. Das war das Wetter, das aller Planung zugrunde lag. Um 8.12 Uhr morgens feuerte der »lange Max« im Wald von Waplemont den ersten Schuß ab. Da war die Schlacht schon verloren.

 

► 300 Tage und Nächte

100 Jahre Verdun

► Auf dem Wege nach Verdun

100 Jahre Verdun
 

Der Aberglaube der Militärs an den industrialisierten Krieg

Der Gott, dem das Projekt Verdun gewidmet ist, heißt Artillerie: Fernkampf. Nicht die Soldaten sollten auf den Feind treffen, sondern primär die Geschosse sollten den Gegner, dessen Unterstände und Bunker, zerschmettern.

Tatsächlich ist der Materialkrieg – so verheerend und mächtig er ist – ein blinder Glaube militärischer Experten. Das gilt für die Artillerie von Verdun wie für die Bombenangriffe heute in Syrien. Sie leisten Vernichtungsarbeit, aber sie führen zu keiner Entscheidung.

Weil für den Artillerieeinsatz das Wetter am ursprünglichen Angriffstermin nicht günstig war, wurde der Angriff verschoben. Dann wurde, um den Beschuss noch einige Stunden zu verlängern, am tatsächlichen Angriffstag der richtige Moment versäumt, an dem die Infanterie, weil der Gegner erschüttert war, erfolgreich hätte stürmen können. So hat der Glaube an die Wunderwaffe den Anfang der Schlacht verspielt. Der gleiche Glaube war der Grund, warum die verlorene Schlacht für so viele Monate nicht beendet wurde.

 

Winston Churchill über Verdun:

„Mit der Hälfte der Mühen und Verluste, die für den Angriff auf Verdun aufgewendet wurden, hätten die Deutschen die Ukraine (mit ihren reichen Bodenschätzen und Weizenbeständen) erobern können. So wäre die britische Seeblockade unwirksam gemacht worden.“

 

Verluste der deutschen 5. Armee vor Verdun im Zeitraum Februar bis September.

Erkrankt: 398.293
Selbstmorde: 29
Verwundet: 241.860
Gefallen: 41.632
Vermisst: 26.739 (Verschüttete Tote, Deserteure, Unauffindbare)
 

Verdun
 

Personen, die vor Verdun eingesetzt waren:

Heinz Guderian
Entwickelte ab 1938 den modernen Bewegungskrieg mit Panzerverbänden, Blitzkrieg genannt. Diese Taktik und Strategie bildet den absoluten Gegenpol zum starren System von Verdun. Guderians Konzepte verarbeiten die Erfahrung von Verdun. Als im Winter 1941 vor Moskau der Bewegungskrieg nicht weiterzuführen war, riskierte Heinz Guderian lieber seine Entlassung, als starres Festhalten an der Front zu befehlen.

Wilhelm Keitel
Oberster Offizier Hitlers in der Wehrmachtsführung. Hat deutlich weniger gelernt aus Verdun als Guderian. In Nürnberg gehängt.

Erich von Manstein
Intensivste Verarbeitung der bitteren Erfahrung von Verdun. Manstein erfindet das „Unternehmen Sichelschnitt“, das 1940 den Westfeldzug gegen Frankreich entscheidet. Gilt auch im Ostkrieg als bester „Operateur“ der Wehrmacht, das heißt als Meister des Bewegungskriegs. Blutige Frontalangriffe wie bei Verdun und starren Stellungskrieg vermied er in jedem Fall konsequent. Als Charakter umstritten. Was militärische begabung und Lerfähigkeit betrifftt, unbestritten. Befahl Rückzüge auch gegen den Willen Hitlers.

Friedrich Paulus
Sohn eines hessischen Gefängnisdirektors. Glänzte lange Zeit in hohen Stäben als Experte des Panzerkriegs. Dann in Stalingrad eingekesselt. Bewegungslos, entschlusslos. „Stalingrad, ein zweites Verdun“

Ernst Röhm
Rabaukiger, nationalsozialistischer Führer. Wollte vermutlich aus der SA eine bürgerkriegsarmee machen. Wurde von Hitler 1934 erschossen.

Arnold Zweig
Verfasser des Buches „Erziehung vor Verdun“.

 

► Verdun als versuchte Durchbruchsschlacht

100 Jahre Verdun
 

»… wie eine Vielzahl leiser Pfiffe …«

Am Abend des 22. Juni 1916 setzte sich Oberleutnant Bechu im Stab der 130. Division mit seinem General im Befehlsstand nahe Souville zum Abendessen. Es war eine windstille Sommernacht. Plötzlich schwiegen alle deutschen Ge¬schütze. Zum erstenmal seit Tagen herrschte vollständige Ruhe. Die Offiziere warfen einander besorgte Blicke zu, denn, sagte Bechu, »der Mann fürchtet sich nicht vor dem Kampf, aber er erschrickt vor einer Falle.«

Nach Minuten war oben in der Luft ein Ton zu vernehmen, »wie eine Vielzahl leiser Pfiffe, die einander ohne Unterlaß folgten, als ob Tausende oder Aber¬tausende von Vögeln in rasendem Flug, die Luft teilend, zu unseren Häupten hinstoben«.

Ein Feldwebel rannte, ohne anzuklopfen, in den Unterstand: Mon general, über uns Granaten, Tausende von Granaten, die nicht explodieren! Los, das wollen wir uns mal ansehen, erwiderte der General.

Als die drei horchend draußen standen, kroch aus der Schlucht ein »beißender, ekelerregender Verwesungsgeruch, ähnlich dem Geruch von schalem Essig«.

 
Verdun

 

Das einzig Gute war, dass auch die Fliegen verschwanden

Den deutschen Streitkräften vor Verdun war eine wertvolle Neuerfindung zur Verfügung gestellt worden: Phosgen, Grünkreuzgas. Der Gasvorhang über der französischen Artillerie löste sich in der windstillen Nacht nicht auf. Die Artil¬leristen hatten schnell ihre Gasmasken übergestülpt, waren zu den Geschützen gelaufen, um zur Stelle zu sein. Nichts rettete sie vor dem Ersticken; auf irgendeinem scheußlichen Wege durchdrang das Gas die Gasmasken, die sie tru¬gen. Jetzt lag für die höhere Führung das Problem darin, eine Mannschaft zu finden, die die Leichenhaufen von den Geschützen weg in das Gebüsch oder in die Schluchten schaffte; die Führung ging davon aus, daß Ersatzmänner, die die Kameraden in Haufen daliegend vorfänden, nicht zum Kampf bereit oder technisch geschickt sein würden. Es waren ja komplizierte technische Geräte zu bedienen, die Geschütze. Schaufelmannschaften, die die Toten beseitigten, konnten wiederum die Nacht über nicht vorgebracht werden, da sich der Gas¬vorhang nicht auflöste. »Das einzige Gute war, daß für einige Zeit auch die Fliegen verschwanden, die überall auf dem verpesteten Schlachtfeld saßen.« Immer wieder griffen sich Ärzte an die Kehle und fielen um.

 

► Kurt Kister über den Waffeneinsatz

100 Jahre Verdun
 

„Das Gas, für menschliche Körper verheerend, militärisch von nur bedingtem Nutzen“

Die deutsche Führung nutzte die Wirkungen des Gasbeschusses nicht aus. Das Gas zeigte die Neigung, sich in Senken festzusetzen, wodurch die französi¬schen Batterien in Hochstellungen verhältnismäßig ungeschoren blieben. Der Chef des Stabs der deutschen 5. Armee hatte sich auch nicht allein auf das Phosgen verlassen. Darum hatte die Artillerie Befehl, den Gasbeschuß vier Stunden vor dem Infanterieangriff einzustellen und »mit normaler Munition nachzufassen«. Diese Beschießung mit Explosivgranaten brachte die Luftbe¬wegung, die das Gas verteilte. Wenigstens einige Haufen von Toten konnten auf französischer Seite aus dem Blickfeld geschafft werden. Reserven drängten heran, die Geschütze zu besetzen.

 

► Schlüsselwort Rückzug

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Die Machtergreifung der Dinge

Am 8. Mai 1916 Unfall im Dorf Douaumont. Aus Flammenwerfern ist Öl ausgelaufen. Der Flammenherd nicht zu löschen. Munitionsdepots explodieren. In den Tunnels und Hallen dieser Betonburg war alles gelagert, was dem feindlichen Beschuß draußen momentan entzogen sein sollte. Kolonnen fliehen durch die Gänge, »eine wirre, psychisch infektiöse Masse«. Vorwärtsdrängende machen Fliehenden, die aus einem Quergang kommen, keinen Platz. Handgranaten werden geworfen.

In der Propaganda war der Douaumont eine Trutzburg in deutscher Hand. Tatsächlich aber war der Betonklotz eine Rumpelkammer. Zur französischen Seite hin ohne Waffen. Man konnte keines der Geschütze des Forts zu dieser Seite richten. So handelte es sich lediglich um einen Behälter zum Unterstellen von Kriegswaren.
Diese Waren hatten sich jetzt verselbständigt und jagten die Menschen vor sich her. Wäre ein Befehlshaber erreichbar gewesen, hätte er in diesem Moment, selbst von Panik ergriffen, die Räumung des Berges befohlen.

Verdun

Ich bin ein guter Beobachter

Ich komme als Ordonnanzoffizier des Oberbefehlshabers viel herum. In dem Stockwerk des Douaumont, in dem ich mich befand, herrschte Ruhe. Uns war unheimlich, weil wir von den Flammen wußten. Solche Brände lassen erst kurz vor Erreichen eines Raumes ein brüllendes Geräusch hören. Zuvor verbreiten sie sich »unmerklich«, »kriechend« (über elektrische Leitungen und verdeckte Röhren). Wir fühlten uns besiegt. Wir schlossen die doppelten Eisentüren, verklebten alle Steckdosen, überprüften, daß keine Heizungsrohre oder Versorgungsleitungen zu unserem Unterstand führten.

Ich bin als bedingungsloser Anhänger Friedrich Nietzsches ein guter Beobachter, gerade im Extremfall. Ich versuchte, ruhig zu bleiben. Ich spürte die Erschütterung des Bodens und der Wände durch die Explosionen, die den Bau erschütterten. Wo bleibt bei einem solchen Ereignis die WILLENSKRAFT, der WILLE? Er ist das, was vor allem Bewußtsein (dieses war bei den Insassen des Douaumont augenscheinlich in Turbulenz begriffen und verwirrte die Sinne) die »innere Linie der Handlungen ausmacht«, also die Haltung, die über Sieger und Verlierer entscheidet. Waren wir bloß verloren oder Verlierer? Ich konnte, in der exakten Beobachtungsart meines Meisters, den WILLEN, d.h. den Treibsatz des Geschehens, nur in den Flammen selbst entdecken: in den Flammenwerfern (wie wir später nach Rekonstruktion des Geschehens erfuhren), und zwar den ersten, die explodierten und in den anderen Dingen die Explosion wachriefen. Diese Flammenwerfer, die wiederum von Erfindern und Konstrukteuren abstammten, die diese chemischen Kampfmaschinen so angeordnet hatten, daß sie zum »Ausräuchern« feindlicher Bunkerbesatzungen, dann aber auch naturgemäß zur Vernichtung von uns selbst, ihren Absendern, taugten. Es war ein Komprimat von MENSCHLICH-AUSSERMENSCHLICHEM WILLEN: feuerspeiende Stangen, in den Tornistern Flammensprühstoff, ein von CHEMISCH ERFAHRENEN ÜBERMENSCHEN ZUSAMMENGESETZTER GESAMTWILLE. Der war explodiert, über uns hergefallen, wobei ich korrekt sagen darf, daß es mich ja nicht traf, den philosophischen Beobachter.

 

► Der Offizier als Philosoph

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Die Anti-Scheuklappe für Artilleristen

Ein Ingenieur der Firma Zeiss-Jena entwickelte in einem der Labore (während des Artilleriefernkampfs vor Verdun) Kaleidoskope für Artillerieoffiziere. Vor die Optiken der Scherenfernrohre konnte ein Vorsatzgerät geschraubt werden. Die Anordnung der Geräte sah dann immer noch so aus, als blicke der Offizier zum Feind hinüber, als starre er auf das Gewirr der Einschläge (an anderen Tagen auch nur in den Nebel), und dennoch konnte sich das Auge »friedensmäßig« erholen, an geometrischen Figuren erfreuen, die beim leisesten Antippen des Geräts, oft schon bei nahen Einschlägen von Geschossen, die den Boden erschütterten, durcheinanderkippten, stets zu neuen Figuren und nicht zu jenem Blickfang, den das Schlachtfeld bot. Die abstrakte Bilderwelt, bestehend aus BEWEGTBILD, ähnelte der Wüstenkriegslandschaft, der Artilleriewüste, in nichts. Der Erfinder rechtfertigte seine Vorrichtung damit, daß die Artilleristen – alles Mathematiker – mit einer solchen Unterbrechung ihres Tages länger Dienst tun könnten.

 

► Der Anti-Scheuklappen-Artillerist

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Die Sprengtunnel von Vauquois

Unter dem Dorf Vauquois, das es nach der Schlacht nicht mehr gab und das bis heute nicht wieder errichtet wurde, haben deutsche und französische Pioniere, ausgesuchte Bergleute, in das Hügelgelände von beiden Seiten Stollen getrieben, die bis in eine Tiefe von 60 Metern reichen und, wie man nach dem Kriege gemessen hat, vereint eine Strecke von 17 km ausmachen.

Die Sprengungen begannen mit 50 kg Dynamit. Jetzt, am 14. Mai 1916, besaß eine deutsche Ladung die Zerstörungskraft von 60.000 kg Sprengstoff. Damit sprengten die deutschen Bergleute einen etwas höher gelegenen Tunnel der französischen Bergleute, die andernfalls den deutschen Tunnel gesprengt hätten.

 

► Zigarren-Willi

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Verdun, der große Umschlagplatz für Sklaven

Kurze Zeit vor seinem Tod reiste HeinerMüller, eingeladen vom Stadttheater von Verdun, an diesen Fleck des früheren Gallien; er sollte eines seiner Stücke hier im folgenden Jahr inszenieren und sich mit den örtlichen Gegebenheiten des Theaters schon einmal vertraut machen. Nach einem Besuch auf den Soldatenfriedhöfen der Stadt, und nachdem er wegen eines öffentlich geäußerten Kommentars zu seinen Eindrücken kritisiert worden war, überwarf er sich mit der Stadtverwaltung, wurde ausgeladen und reiste ab.
Ein Haufen Lehm, notierte Müller auf einem Bierdeckel, ist in der Flußlandschaft von Verdun über 3000 Jahre mit sich selbst identisch. Die Umwühlung dieses Bodens durch Artillerie, seine oberflächliche Bearbeitung durch Landwirtschaft, Städte- oder Straßenbau verändert die Moleküle, gemessen an den Grenzen Europas, nur unwesentlich. Dieser Ort war in den Jahren 782 bis 804 n.Chr. der große Umschlagplatz für Sklaven.

Befragung von Heiner Müller in Verdun:

– Sie haben die Heiligtümer der Toten, die Monumente und Kapellen, die auf den Friedhöfen Verduns errichtet sind, als »kitschig« bezeichnet: als Schlachten-Kitsch.
– Zumindest drücken sie nicht den Stil aus, in dem 1916 hier aufeinander geschossen wurde.
– Was unterscheidet Sklaven von eingegrabenen Soldaten, die der Befehl im Trommelfeuer festhält?
– Eine Menge. Sklaven haben Hoffnung auf gute Behandlung.
– Die eingegrabenen Soldaten haben keine Hoffnung?
– Eigentlich nicht. Denn kehren sie zurück, entspricht nichts dem Erlebnis, dem Granatenhagel ausgesetzt gewesen zu sein. Sie können die Erinnerung nur löschen.
– Wen nennt man Sklaven?
– Einen Menschen oder eine Arbeitskraft, die das Eigentum eines anderen ist.
– Wessen Eigentum sind die Soldaten von 1916? Die Verwundeten? Die Zerschmetterten?
– Auf deutscher Seite Reichseigentum. Auf französischer Seite Eigentum der Republik.
– Insofern auch Sklaven?
– Nein. Sie sind Besitzer eines Eigenwillens, der um jeden Preis dieses Schlachtfeld verlassen will. Dieser Eigenwille stand einem Sklaven nicht zu.
– Gesetzlich nicht oder wirklich nicht?
– Ich kann mich in einen Sklaven von 602 n.Chr. nicht hineinversetzen.
– Und in einen der Charakterpanzer von 1916, die hier vor Verdun liegen?
– Auch nicht.

 

► Besichtigung des Schlachtfeldes – Ein Film von Heinz Bütler

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► Von der Gemütlichkeit bis zur Zerschmetterung des Gefühls

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Rache für Verdun

Ingenieur Willi Eisler wollte nach dem »Artillerieduell« vom 16. Oktober 1916 bei Verdun mit seiner Kompanie die ihm zugeteilte Schlachtzone verlassen, auf die wenig später vom Gegner mehrere Tausend Tonnen Granaten abgeschossen wurden. Die flüchtende Schar wurde von einem Stabsoffizier, Dr. von Fredersdorff, der Feldgendarmen um sich hatte, bei Orlemont aufgehalten. »Machen Sie, daß Sie schleunigst wieder dahin kommen, wo Sie mit Ihrer Kompanie her¬kommen.« »Herr Major wollen sich diese Sumpfzone ansehen. Der Beschuß wird in der nächsten Stunde noch zunehmen.« »Papperlapapp. Sie kehren mit Ihren Männern um.«

Dieser Vertreter einer Logik, die durch bloße Materialmassierung »dem Gegner Blut ablassen« wollte, zog den langandauernden Haß von Ingenieur Eisler auf sich.

18 Jahre später ließ Eisler einen Brückenteil, auf dem Major a.D. von Fredersdorff – jetzt Oberbaurat – eine Besichtigung vornahm, einstürzen. Aus dem Gefängnis, in dem Eisler wegen fahrlässiger Tötung einsaß, holte ihn 1942 Fritz Saur vom Jägerstab im Rüstungs- und Munitionsministerium. Noch 1945 gelang es Ingenieur Eisler, den gelähmten Fredersdorff in dem diesem gehörigen Gartenhäuschen auf der Schwäbischen Alb aufzuspüren. Bei jenem Brückeneinsturz, für den Eisler gebüßt hatte, waren zwölf Arbeiter getötet, Fredersdorff nur am Rückgrat verletzt worden. In seinem Rollstuhl schrieb Fredersdorff an einem Buch. Jetzt warf Eisler, der mit zwei ausländischen Hilfskräften in einem Militärfahrzeug vorfuhr, diesen Rollstuhl um, schleifte Fredersdorff – der in dem rachsüchtigen Ingenieur nicht jenen Fähnrich wiedererkannte, den er »an der Straßenkreuzung von Orlemont auf seine Pflicht auf¬merksam gemacht hatte« – an einen Weiher, in dem rasch Hinzukommende den Gelähmten später fanden. Brustquetschen hatte Erfolg, Fredersdorff atmete wieder. Ingenieur Eisler wurde nach Wiederherstellung der Rechtsver¬hältnisse wegen dieser Sache (Paragraph 211, 48 StGB) auf drei Jahre eingesperrt. Im Jahre 1959 gelang es Eisler erneut, den alten Fredersdorff aufzuspüren, der jetzt wieder Beratungen von Baufirmen durchführte. Eisler verwüstete Fredersdorffs Büro. Im Gartenhaus verbrannte Fredersdorff in dem von Eisler eilig gelegten Brand. Eisler erzog in der Folgezeit seine Nachkommen, mehrere Söhne und Töchter, zwei Enkel, in einem rigiden Antikriegsklima – wobei Eisler nicht den Krieg als solchen bekämpfte, sondern eine bestimmte Denkform, die in Verdun sein Leben zerstört hatte, indem sie von allen seinen zahlreichen Wünschen nur den nach unverzüglicher Rache übrigließ.

»Die Scheibe friert, der Wind ist rauh
Der nächt’ge Himmel rein und blau
Und will ich in die Sterne sehen
Muß stets das Aug mir übergehen …«

 

► Nerven wie Drahtseile

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► Weihnachten in Verdun

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