„Sterbensstandard“

422px-AugustStramm_27494a4ddcIn den letzten drei Tagen seines Lebens war der Dichter und Bataillonschef August Stramm in Rußland, trunken von Adrenalin, an der Spitze seiner Leute marschiert. Der Enthusiasmus des Vormarsches, aus den Karpatenpässen heraus und in die Ebene hinein, das gemeinsame energische Tun, kontaminierte die Geister (= Wetteifer, Tüchtigkeiten). Der Elan hatte den Lyriker und Kriegskenner (aber mit wieviel Haß hatte er schon dieses Monster besungen!) dazu gebracht, immer unvorsichtiger zu werden. Schon leugnete er den Feind und hielt sich selbst für »schußfest«. Den Tornister trug er vor der Brust als eine Art Schutzwehr. So traf ihn die Maschinengewehrgarbe, abgefeuert aus einem Sumpfgelände, in dem keiner der vordringenden Soldaten einen Gegner vermutet hätte.

Den Transport des Halbtoten, dem aus sieben Wunden das Blut entwich (schon vermischt mit Seim, ähnlich der Eiterflüssigkeit, die aus Blut entsteht, wenn es sich zersetzt), beschrieb Arno Schmidt in einem Text, den er in den siebziger Jahren in einem Anfall von Mißmut verbrannte: den hoffnungslosen Weg des expressiven Wörterschmieds auf seiner Bahre. Sie wurde von zwei seiner Kameraden getragen. Wäre der mobile Hauptverbandsplatz, der noch in den Bergen lag, wie am Vorabend befohlen, der Front nachgerückt, hätte ein Militärarzt den Mann, dem die Formulierungen im Kopf erstarrten (aber die Worte »Schmiervogel«, »stracks« und »dunkelwärts« suchte er sich noch zu merken), wenigstens in Teilstücken und als Trümmer retten können. Noch im Rollstuhl, ohne nutzbare Glieder, hätte dieser »Seher« dann in Diktaten die Erfahrung seines letzten Einsatzes festhalten können. Vermutlich hätten sich mit der Zeit einige seiner Formulierungen wiederholt, und nach zehn Jahren wären die starken »Wortgewölke« einem Leser übertrieben erschienen. Eine andere Mode des Ausdrucks hätte die rissige Sprache abgelöst. Verbittert, so Arno Schmidt, hätte der Dichter in seinem Wohnzimmer in einer deutschen Ortschaft gesessen; er hätte dann schlecht anfangen können, den Frühling oder die Arbeiterbewegung statt des Krieges zu besingen. Im frontnahen Hauptverbandsplatz aber, der zur k.u.k. Etappe gehörte, so Schmidts Bericht, der aber nichts Genaues darüber wußte, hatten Ärzte, Pflegepersonal und Transporteure am Vorabend kameradschaftlich gebechert, so daß ein früher Aufbruch am Morgen des Kampftages nicht in Betracht kam. Aus diesem Zögern heraus und nicht aus den Verletzungen folgte Stramms Tod. Die kooperative Spiritualität, die ihn in seinen letzten Tagen hingerissen hatte, war ihm aus den schußbegründeten Öffnungen in seiner Haut davongeströmt, DESERTEURE DER LEBENSKRAFT. Was so aussah, als beginne es zu eitern, war schon nicht mehr als Blut zu bedichten (das irgendwann gerinnt), sondern ein unablässiges Versickern, ein DURCHFALL DES GEISTES, so daß Stramm gleichgültig und unkämpferisch in Bezug auf sein Leben auf dem Hauptverbandsplatz ankam, wo ein Ärztevertreter ihn kurz betrachtete. Die Sanitätskolonne war jetzt aber bereits mit ihrem Aufbruch zur Front beschäftigt. Der Patient mußte warten. So jedenfalls, meinte Schmidt, wolle er selbst einst nicht sterben müssen, was ihm dann doch widerfuhr, als ihm in den Tagen vom 31. Mai bis zum 3. Juni zwar nicht Mut und Blut, sondern die Nervenverbindungen und die Sinngebung, die Geist und Körper zusammenhält, entschwanden. Zuletzt siechte er nur noch, ein Haufen Stoff, auf der Intensivstation einer norddeutschen Stadt dahin. Die Krankenanstalt war auf den Empfang des poeta laureatus nicht vorbereitet.