Karl der Große

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Zum Projekt: Transrheinische Brücke

„Die Kostbaren Gelegenheiten, an denen Frankreich und Deutschland etwas gemeinsam haben“

 

Die Zeit Karls des Großen

Alexander Kluge kl

Zu den seltenen historischen Gelegenheiten, in denen Frankreich und das spätere Deutschland sich als zusammengehörig empfanden, gehört die Zeit Karls des Großen (geb. 774 bis 814). Drei große Herrscher: Karl Martell, dessen Sohn Pippin, und Karl folgten aufeinander. Aus Macht, Bildungsreform und Rückgriff auf die Antike entwickelt Kaiser Karl ein frühes Europa. Zu diesem Zeitpunkt ist Europa der Name einer kleinen Provinz, die gleich hinter Byzanz liegt. Niemand nennt das Frankenreich Europa, aber Brücken über den Rhein gibt es zu jener Zeit schon viele.

Alexander Kluge


Rolands Verhängnis

Im Rolandlied heißt es in LVIII, Verse 737-747 und LXI, Verse 761-782 (Oxforder Handschrift): »Die Nacht vergeht, der klare Morgen erscheint… Der Kaiser sitzt stolz zu Pferde. Ihr Herrn Barone, sagt der Kaiser Karl, seht die Ge­birgspässe und die engen Straßen: wählt mir einen für die Nachhut! Ganelon antwortet: Roland, meinen Stiefsohn! Ihr habt keinen Baron von gleicher Tap­ferkeit. Als der König dies hört, sieht er ihn drohend an und hat zu ihm gesagt: Ihr seid der Teufel selbst; wilde Wut ist in euch eingedrungen! und wer soll vor mir bei der Vorhut sein? Ganelon antwortet: Ogier von Dänemark! Ihr habt keinen Baron, der sie besser führen könnte …

Als Roland hört, daß er zur Nachhut kommen soll, da sprach er zornig zu sei­nem Stiefvater: Ha, du Schuft, du elender Bastard, du hast wohl geglaubt, mir würde der Handschuh zu Boden fallen, wie dir der Stab, als du vor Karl stan­dest? Ist es so, daß der Kaiser – und auch Roland – die Intrige erkennen? Wissen sie jetzt schon, daß die Nachhut geopfert werden muß? Will der Kaiser Roland retten, indem er ihn für die Avantgarde beansprucht?

 
► Johannes Fried über Karl den Großen – Teil 1

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Der tiefere Grund für Rolands bitteres Ende

Man weiß, daß Rolands Stiefvater Ganelon als Gesandter Kaiser Karls zum Sarazenenkönig Marsilius geschickt worden ist, eine Gesandtschaft, die mit Todesgefahr verbunden war. Er hat sich nur dadurch gerettet, daß er sich mit Marsilius gegen die Partei der Kriegstreiber am fränkischen Hof verbindet; diese, deren Anführer der von Ganelon gehaßte Stiefsohn Roland ist, muß die Nachhut des Heeres bilden, von Marsilius überfallen und geopfert werden. Die Feindschaft zwischen den beiden Baronen: dem Stiefsohn Roland und dem Stiefvater Ganelon, liegen alte Vermögensstreitigkeiten zugrunde.

 

Roland wird zum Führer der Nachhut bestimmt

Gerechter Kaiser, sprach Roland der Baron, gebt mir den Bogen, den ihr in der Hand haltet! Ich denke, man wird mir nicht vorwerfen können, daß er mir hinfiel, wie Ganelon der Stab aus der Rechten fiel! Der Kaiser hielt sein Haupt gesenkt, er strich sich den Bart und drehte an seinem Schnurrbart; er kann die Tränen nicht zurückhalten.
Danach ist Naimes gekommen; es gab keinen besseren Ritter als ihn am Hofe; er sagte zum König: Ihr habt es wohl gehört; der Graf Roland ist sehr erzürnt: die Nachhut ist ihm bestimmt worden; kein anderer Baron könnte mehr für ihn eintreten; gebt ihm den Bogen, den ihr gespannt habt; und findet sehr gut Hilfe für ihn! Der König gibt ihm den Bogen, und Roland hat ihn entgegengenommen.«

 
► Johannes Fried über Karl den Großen – Teil 2

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Überfall auf die Nachhut des fränkischen Heeres

Die Nachhut des fränkischen Heeres, Roland und die 12 Pairs, werden später in einem engen Tal überfallen, gehen unter. Das fränkische Heer kehrt nach dem tödlichen Lernprozeß um, aufgeschreckt durch den dreimaligen Hornruf, (da ist Roland schon tot), kommt in Eilmärschen zu Hilfe. Irgendwelche ganz anderen Vorgänge im Volke sind hier gespiegelt, und es ist bekannt, daß dieses Rolandslied zwar in Hochsprache geschrieben ist, aber auf Jahrmärkten überliefert wurde: 11./12./13. Jahrhundert. Es gibt den Helden Roland auch in der sizilianischen Überlieferung, und zwar im Puppentheater. Dies wäre nicht möglich, wenn der Mythos an seinen Bruchstellen, an denen er nicht berichtet, nicht auf Erfahrungen einginge, die von ganz anderen als den Baronen gemacht wurden. Es gibt das Gemeinwesen, aber die Auslese der Besten wird von diesem Gemeinwesen (wider Willen) in den Tod geschickt, und in der Not erscheinen die Getreuesten zu spät auf dem Kampfplatz.

 

Rolands Wut

Bei Jules Michelet, Die Hexe, Leipzig 1863, S. 24 findet sich die rätselhafte Stelle, schreibt der Historiker in der Warteschleife, Xaver Holtzmann: »Einen gab es, der bei einem so großen Schimpf in eine solche Wut geriet, daß er kein einziges Wort herausbrachte; dies war der verratene Roland. Sein ganzes Blut stieg ihm empor und gelangte bis zum Kopfe; seine Augen sprühten Blitze, sein stummer, plötzlich fürchterlich beredter Mund ließ die ganze Versammlung erblassen … Sie weichen zurück, er aber war tot, seine Adern waren gesprungen; seine Arterien spritzten das rote Blut bis an die Stirn seiner Meuchelmörder.«

 
► Johannes Fried über Karl den Großen – Teil 3

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Die Liebe als Schwerstarbeiter

Die je etwa fünfzig Opern, die Reinhard Keiser und Georg Philipp Telemann für die populäre GÄNSEMARKTOPER in Hamburg schrieben, haben sämtlich ein lieto fine, ein zu positiver Lebenspraxis aufrufendes, interaktives Ende. Weil man die kostbare Zeit, in der die Jahrzehnte der Aufklärung verrinnen, nicht dadurch vertrödeln darf, daß Konflikte in der Schwebe gehalten, daß Zweifel gesät, Defätismus und tragisches Mißlingen verbreitet werden.

Sapere aude!

Wage es, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen. Habe Lust, am Ende der Oper einer gemeinsamen Vernunftleistung der Sänger und des Orchesters zuzuschauen.Die Kritik an »instrumentellerVernunft« und »Egozentrik des Verstandes« war um 1740 noch nicht ausgereift. Es war nicht der Lehrsatz oder die Verstandesleistung, welche die Ränge des Gänsemarkttheaters, die über den Erfolg eines Theaterabends entschieden, in positive Rage versetzten. Erfolgreich war der Witz, der mit einem glücklich endenden Finale überraschte. Diesem Schlußakkord mußte im Saal eine Welle der Traurigkeit vorangehen, eine VERDICHTUNG DES GEFÜHLS, eine SCHÜRZUNG DES TÖDLICHEN LEBENSKNOTENS, weil nur dann die Erleichterung, die Rippenfreude eintritt, die den Übergang vom Traum in die Wirklichkeit (nach Ende des Stücks) vorbereitet. In Emma und Eginhard, einer siebenstündigen Oper von Telemann, schleicht nachts Karl der Große – darin verwandt demzeitgleich lebenden Harun Al Raschid in Bagdad – durch seinen Palast. Er fahndet nachVerrat. Er beaufsichtigt sein Personal. Er kontrolliert seine Kinder.

Einer seiner Berater, der gelehrte, aber nicht adlige Eginhard (nach dem Vorbild von Karls Biographen Einhard), hat ein Liebesverhältnis mit der Kaisertochter Emma. Der Kaiser hat das Paar ausgespäht. Er ist ein NIE VERZEIHENDERKAISER. Am Bürgertheater Hamburg macht es dem Publikum Spaß, wenn mittelalterliche Kaiser als Tyrannen dargestellt werden. Im dritten Akt der Oper. Nachts ist Schnee gefallen. Wie kann das verliebte Paar, das sich entdeckt sieht, aus der Burg fliehen? Die Spur von Männerschuhen im Schnee wäre für den Kaiser der Beweis, daß Emma die Nacht nicht allein verbracht hat. So lädt sich die Kaisertochter den Geliebten auf ihre Schultern und trägt ihn über Land.

Die Zuschauer haben zu diesem Zeitpunkt das erfinderische Paar längst ins Herz geschlossen. Der Kronrat beschließt die Verhaftung Eginhards. Er und die Kaisertochter sollen durch das Schwert hingerichtet werden.

Jeder der Liebenden will sich für den anderen opfern. Beide bitten um Gnade, und zwar jeweils für den anderen. Auch sind sie bereit, lieber zu sterben, als voneinander zu lassen.

»Wenn Du etwas sehr lieb gewonnen hast
und sollst es verlieren,
ist Trauerarbeit nötig.
Trauer macht reich.
Wegdenken macht arm.«

Im Opernhaus ist es still geworden. Telemann hat für die Szene, in der jeder die Exekution des Paares erwartet, ein Largo geschrieben. Es wird von den tiefen Streichinstrumenten ausgeführt. Von Paukenschlägen begleitet. Alle Besucher der Gänsemarktoper blicken in einen tiefen Abgrund. Erst nach solchem Erlebnis ist Glück etwas wert. Jubel nach dem Schlußchor. Alle lieben den filigranen, leptosomen Chronisten und Schreiber Eginhard, ein dünnes Stück Mann, das auf die Schultern der korpulenten Freundin gut paßt. Es ist ja zu sehen, daß der breitschenkelige Kaiser mit seinen starken Schultern mit dieser jungen Frau verwandt ist (er wird an Blutdruck und Übergewicht sterben, da seine Herzpumpe den kraftvollen Leib nicht länger versorgen kann). Wie könnte er ihr da das Haupt abschlagen? Er soll die Leistung ihrer Füße im Schnee honorieren! Liebe ist Schwerstarbeit. Im Kopf des Kaisers löst die Musik die Starre, und er ändert seinen Sinn.

 
► Liebe als Schwerstarbeit

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Aus Alkuins Schriften zur Bildungsreform

Der gebildete Schotte Alkuin ist lange Jahre Chefberater Karls des Großen. Später erhält er als Dank einen Bischoffssitz. Die Bildungskapitularien Alkuins bilden die Grundlage für ein Netz von Bildungsstätten und Domschulen im ganzen Reich. Wie ein Straßensystem verbindet das Lateinische die Lokalsprachen.

 
► Johannes Fried über Karl den Großen – Teil 4

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Originalton aus Alkuins Schriften

Der Brief erfüllt das officium linguae. Das Sprechen aber ist nicht gleichgültig; nicht jedes Sprechen, nicht jede Mitteilung entspricht diesem officium. Häufig wird zwischen dem eigentlichen loqui und seinem defizienten Modus, der vaniloquentia, unterschieden, die das loqui verkehrt. In einem Brief an Theodulf von Orleans definiert Alcuin: memor esto sacerdotalis dignitatis linguam caelestis esse clavem imperii et clarissimam Christi tubam. Quapropter ne sileas, netaceas, ne formides loqui.
Loqui also ist eine geistliche Pflicht und entspricht der priesterlichen Würde. Die Hochschätzung des Wortes ist zugleich Verpflichtung zum Wort als Aufgabe des Geistlichen. Daher die immer wiederkehrende Abwandlung und in den verschiedensten Zusammenhängen erteilte Ermahnung zu sprechen: nolite tacere.

 
Originalton aus Alkuins Schriften

Silentium in sacerdote pernicies est populi. Loqui trägt seine Berechtigung nicht als beliebige Mitteilung in sich, sondern in dem Ziel, das ihm innewohnt: es ist Schlüssel zum imperium regni caelestis.
Indem der Text lingua als clavem caelestis imperii, das officium linguae, nämlich loqui, demnach als »Aufschließen« jenes Reiches qualifiziert, ist zugleich eine weitere inhaltliche Bestimmung des loqui gegeben: erudire. Es wird später die Rede davon sein, in welcher Weise eruditio ad regnum dei die eigentliche Aufgabe des geistlichen Amtes ist; desgleichen, wie diese Tätigkeit in ihrem Ziel, der sapientia, zur Ruhe kommt, die als Erfüllung der eruditio zugleich der Zugang zum imperium regni caelestis ist. Eruditio bedeutet demnach inhaltlich einmal: fidei rationes (praecepta dei) scire und diese sobria conversatione ostendere (ea implere). Der ductor et doctor gregis führt docendo et ammonendo zur salus animarum. Das geht alle an: docendus est itaque (omnis) homo rationalem habens intelligentiam.

 
► Die Schule des Schwimmens für Herrscher

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So jung war das Jahrtausend

Der Forschungsgegenstand des mit Zerfall der DDR aus seinem Akademie- Amt gejagten Historikers Xaver Holtzmann war faszinierend: die Zeit der Sachsen-Kaiser (900-1024). In diesem riesigen Forschungsgebiet war Holtzmann spezialisiert auf den Enkel Ottos des Großen, den Sohn der Kaiserin Theophanu.

Wer außer ihm interessierte sich dafür? Wie schwer war es gewesen, die Kontroller der Deutschen Demokratischen Republik zu hindern, diesen (ihnen winzig erscheinenden) Forschungsausschnitt zu liquidieren. Holtzmann war regelmäßiger Besucher des Berliner Ensembles. In der Kantine saß er oft, sprachlos, neben dem Dramatiker Heiner Müller. Gemeinsam überbrückten sie Zeit.

Gemeinsam befanden sie sich in einer Verteidigungsstellung. Die Verse, die Müller schmiedete, waren so wenig leicht zu rechtfertigen gegenüber der kollektiven Anspannung des sozialistischen Ganzen, gegenüber dem Ansturm des Klassenfeindes, wie es Forschungen Holtzmanns zur Vita Ottos III. waren. Das frühe Mittelalter ist nämlich mit den Kategorien des Marxschen Werks kaum zu bearbeiten. Die frühmittelalterliche Struktur fällt unter das Kapitel: »Produktionsweisen, die der kapitalistischen Produktion vorangehen«. Dies kann frühe Steinzeit, Glockenurnenleute, Pferdezüchter, schottische Clans oder die sächsische Kaiserzeit bedeuten. Holtzmann war sicher, daß in den Adern der hochmodernen DDR-Wirtschaft einiges von jenen frühen Zuständen der Zivilisation floß, mit denen das erste Jahrtausend nach Christus endete. Der Satz Lenins: »Es gibt immer einen Ausweg«, sagte Holtzmann zur Begründung seines Forschungsbereichs, setzt voraus, daß man den Anfang einer Geschichtsperiode zu rekonstruieren vermag. In diesem Anfang sind die Auswege verzeichnet, weil sie im Endprodukt der Geschichte (nach 1000 Jahren, wenn es heißt, soviel Anfang war nie) wiederkehren. Gerade diese Theorie der Wiederkehr war aber der Wissenschaftsbehörde der DDR verhaßt. Holtzmann hatte schwere Kämpfe durchzustehen. Und jetzt, entlassen aus dem Amt, hatte er nicht einmal mehr ein Gegenüber, mit dem er um seine Arbeit kämpfen konnte.

Brechtisch saß der Dramatiker neben ihm. So fliegt dem Dichter der Stoff zu. Er muß nur entspannt, ein Getränk vor sich, Pausen einlegen, aus dem Geschäftsbetrieb der Tage Zeiten herausstanzen. Dies ist die eigentliche poetische Tätigkeit, die Herstellung einer Absenz.
Müller fesselte Holtzmanns Schilderung eines Tages im Jahre 1000: Alle fürchten eine Katastrophe, wenn der Tag zu Ende geht. Der Kaiser, am Vortag in Aachen angelangt, flüchtet in die Kirche, die Karl dem Großen gewidmet ist. Am späten Nachmittag gelingt Handwerkern der Durchbruch in die Gruft des Kaisers. Die Barone und Ritter, die den jungen Kaiser begleiten, kriechen durch die Trümmerstücke in das Kellergewölbe. In großer Furcht verbringen sie dort die Mitternachtsstunde. Um drei Uhr früh kriechen sie an die Oberfläche zurück.

Noch in der Nacht hämmerte Müller einen Text in seine Schreibmaschine, die die Momentaufnahme festhält. Wer komponiert das?
Die Darstellung des Geschehens: »Wir gingen also zu Karl hinein. Er lag nicht, wie sonst die Toten, sondern er saß, als lebte er, und hielt in seinen Händen, die in Handschuhen steckten, ein Zepter; die Fingernägel hatten sich durch die Handschuhe gebohrt und schauten aus ihnen heraus. Über ihm war eine Decke aus Kalk und Marmor. Als wir hinkamen, durchbrachen wir sie. Bei unserem Eintritt schlug uns ein überaus starker Geruch entgegen. Wir erwiesen Kaiser Karl sofort auf den Knien unsere Huldigung, und Kaiser Otto bekleidete ihn auf der Stelle mit weißen Gewändern, beschnitt ihm die Nägel und brachte, was Schaden gelitten hatte, wieder in Ordnung. Übrigens hatte Kaiser Karl noch keins seiner Glieder durch die Verwesung verloren, einzig die Nasenspitze hatte er eingebüßt. Kaiser Otto ersetzte sie mit Gold, zog einen Zahn aus Karls Mund, vermauerte den Zugang zu dem Gemach aufs neue und entfernte sich wieder.«

Von Aachen, berichtet Xaver Holtzmann, ging Otto III. nach Rom. Zwei Jahre später war der junge Kaiser tot. Von dem Leichnam des Kaisers Karl ist nichts erhalten. Das Grab, das Otto III. verschloß, wurde nie wiedergefunden. Heiner Müllers in die Maschine gehämmerter Text konzentrierte sich auf das Gold, das die Nase des Kaisers Karl ersetzt hatte. Dieses Fragment nämlich blieb aufgrund seines Wertes erhalten und wurde am 4. November 1989 bei Sotheby zum Spottpreis von 27000 $ von Japanern ersteigert.

 
► Des Kaisers goldene Nase

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Verdun, der große Umschlagplatz für Sklaven

Kurze Zeit vor seinem Tod reiste Heiner Müller, eingeladen vom Stadttheater von Verdun, an diesen Fleck des früheren Gallien; er sollte eines seiner Stücke hier im folgenden Jahr inszenieren und sich mit den örtlichen Gegebenheiten des Theaters schon einmal vertraut machen. Nach einem Besuch auf den Soldatenfriedhöfen der Stadt, und nachdem er wegen eines öffentlich geäußerten Kommentars zu seinen Eindrücken kritisiert worden war, überwarf er sich mit der Stadtverwaltung, wurde ausgeladen und reiste ab.
Ein Haufen Lehm, notierte Müller auf einem Bierdeckel, ist in der Flußlandschaft von Verdun über 3000 Jahre mit sich selbst identisch. Die Umwühlung dieses Bodens durch Artillerie, seine oberflächliche Bearbeitung durch Landwirtschaft, Städte- oder Straßenbau verändert die Moleküle, gemessen an den Grenzen Europas, nur unwesentlich.
Dieser Ort war in den Jahren 782 bis 804 n.Chr. der große Umschlagplatz für Sklaven. Ein Sklave, kriegsgefangen, aus den germanischen Ländern hierher verfrachtet, kann sein Glück finden, wenn das Latifundium, das ihn erwirbt, im freundlichen Geiste bewirtschaftet wird, ja wenn er hier eine Sklavin findet, die zu ihm paßt. Seine Nachfahrin, immer unterstellt, Anfänge und Fortlauf bleiben glücklich, hat die Chance, einen fränkischen Krieger zu verzaubern, Herrin zu werden.
Von den KONFÖDERIERTEN GLÜCKSVERSPRECHEN des 7. Jahrhunderts gesehen ist es Zufall, daß die Generalstäbe von 1916 gerade diese Höhen und Flächen an dieser inzwischen zur Festung definierten Erdenzone zum Projekt einer BLUTABZAPFUNG machen. Davon zeugen Museen, Gräberanlagen, Erinnerungsschilder. Wie schnell vernarbt eine Landschaft?

 
► Helge Schneider als Karl der Große

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Rätselhaftes Gallien

Entstehung der Liebe aus Sklaverei und Eroberung. Nicht die Römerinnen und nicht die vornehmen Frauen der Gallier, die die Landsitze verwalteten, faszinierten die Franken, die das Land besetzten, sondern die Sklavinnen auf den Landgütern. Mit den Eroberern hatten die Sklavinnen gemein, daß mit solcher Verbindung ein neues Leben begann.
Erst später enteigneten die neuen Paare die alten Besitzer. Das Eigentum gesellte sich zur Intimität.
Wer war der Unterworfene? Der Krieger? Die Sklavin? Das ließ sich nie wieder entwirren. Man sagt aber, daß die NEUEN VERBINDUNGEN, die hier beschrieben sind, den Unterschied zwischen einem Barbarenland und Frankreich ausmachen.
 


Aus: Neil MacGregor DEUTSCHLAND. ERINNERUNG EINER NATION, S. 235 ff

„Die Nachbildung der Reichskrone, die heute in Aachen verwahrt wird, ist von hoher handwerklicher Qualität und akkurat bis in Detail – ein Beleg dafür, welche hohe Bedeutung Wilhelm II. seiner Ausstellung zu den Kaiserkrönungen zumaß. Das Projekt kam 1914, mit Beginn des Ersten Weltkriegs zum Stillstand. Am Ende des Krieges waren beide Herrscherhäuser verschwunden, das Haus Habsburg ebenso wie das der Hohenzollern. Die Reichskrone allerdings blieb und die von ihr verkörperte Geschichte hat, wie Horst Bredekamp erläutert, ihren Abschluss noch nicht gefunden.
(…)
Adenauer und De Gaulle trafen sich zu diesem feierlichen Akt der Aussöhnung genau 1000 Jahre, nachdem Otto I. vom Papst in Rom zum Kaiser gekrönt worden war, wahrscheinlich mit der Krone, die später zur „Karlskrone“ wurde.

 

Die Krone der Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, die „Karlskrone“; Nachbildung angefertigt auf Befehl Kaiser Wilhelm II., 1914, nachdem sich die Schatzkammer der Wiener Hofburg geweigert hatte, die historische Krone leihweise auszuliefern

Krone Napoleons

Napoleon krönt sich selbst zum Kaiser. Skizze von Jaques-Louis David

Kaiser Wilhelm I. im Gewand eines Kaisers. Glasfenster aus dem Dreikaiserjahr 1888

Münzen

Adenauer

Charles De Gaulle und Konrad Adenauer vor der Kathedrale von Reims, 8. Juli 1962