Neu im Catch-up Service: Prohairesis: „Die innere Geballtheit“


Ferdinand von Schirach über den antiken Philosophen Epiktet
Der antike Philosoph Epiktet war ein Sklave. Er gehört zu den bedeutendsten Denkern der Antike. Einer seiner Lehrsätze bezieht sich darauf, dass nicht der Tod zu fürchten ist, sondern die Furcht vor dem Tod. Diese Furcht ist es, die die Haltung und die Lebenskraft zerstört. „Wo der Tod ist, da bin ich nicht – und wo ich bin, ist der Tod nicht.“ Um diese Haltung zu erreichen, muss man sich darauf konzentrieren, worüber man selbst entscheiden kann. Der Außendruck der mächtigen Realität ist kein guter Ratgeber. Man braucht die „innere Geballheit“ (Konzentration auf die eigenen Lebenskräfte), um gegen diesen Außendruck Widerstand zu leisten.
Der Jurist und literarische Autor Ferdinand von Schirach, von dem vor kurzem dessen neues Buch STRAFE und der Gesprächsband DIE HERZLICHKEIT DER VERNUNFT publiziert wurden, zeigt die Modernität und Relevanz Epiktets. Von Epiktet sind keine Schriften erhalten. Wie bei Sokrates kennen wir nur die Überlieferung durch seine Schüler. Die Gedanken des Philosophen waren im Mittelalter Gegenstand erfundener Gespräche, z.B. der Dialoge des Kaisers Hadrian mit Epiktet. Dies zeigt seine Beliebtheit.
Begegnung mit Ferdinand von Schirach und mit einem unterschätzten antiken Philosophen.
► Prohairesis: „Die innere Geballtheit“ (10 vor 11, Sendung vom 07.05.2018)


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► Der Prozess des Sokrates

In Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern widmete Ferdinand von Schirach in Berlin dem Tod des griechischen Philosophen Sokrates einen starken musikalisch-poetischen Abend.
Von dem Prozess des Sokrates berichten unabhängig voneinander seine Schüler Platon (in seiner „Apologie“) und Xenophon. Auffällig, sagt Ferdinand von Schirach, ist es, wie ungeschickt der Philosoph sich vor dem Gericht verteidigt. Er hätte sich auf eine zwei Jahre zuvor, bei Sturz der Aristokratie und dem Sieg der Demokraten, verkündete Amnestie berufen können oder auf die Meinungsfreiheit.  Dann hätte er freigesprochen werden müssen. Stattdessen provoziert er das Gericht, das aus 500 Richtern besteht, einer Art Volksversammlung. Schon seit dem Theaterstück „Die Wolke“ von Aristophanes, in dem er als Spottfigur auftaucht, läuft ein „shitstorm“ gegen den Philosophen. Er hatte enge Verbindung zur aristokratischen Partei, die den Demokraten verhasst war.
Nach athenischem Recht kann das Gericht entweder dem Antrag der Kläger (Todesstrafe) oder dem Gegenantrag des Angeklagten folgen, ein Drittes gibt es nicht. Sokrates hätte z.B. auf Verbannung plädieren und so die Todesstrafe vermeiden können. Er aber verlangte statt Strafe eine Belohnung.
In der Nacht nach dem Todesurteil sitzt der Philosoph im Kreise seiner Getreuen. Er opfert dem Arzt-Gott Asklepios einen Hahn und trinkt den Giftbecher bis zur Neige. Die Kunst hat diesen Augenblick viele Mal festgehalten. Eine stoische Haltung: Lieber stirbt er, als falsch zu leben. Die Haltung ist mit der Grundfrage nach dem Sinn des Lebens verknüpft und eine moderne Basis für den dichterischen Blick.


► Herzlichkeit der Vernunft

Ferdinand von Schirach ist bekannt als Strafverteidiger und zugleich als erfolgreicher literarischer Autor. Sein Theaterstück „Terror“ gehört an deutschen und ausländischen Bühnen zu den meistgespielten Gegenwartsdramen.
In der vorliegenden Sendung geht es um den Prozess Calas, um moderne Prozesserfahrung und ihre Wiedergabe in den Stoffen des True Crime.
In einer Atmosphäre des religiösen Fanatismus wurde im Jahre 1762 der hugenottische Kaufmann Jean Calas wegen angeblichen Mordes an seinem Sohn in einem haarsträubenden Prozess zum Tode verurteilt und gerädert. Bis zuletzt suchten die Justizbehörden ein Geständnis von ihm zu erlangen. Die furchtbare Exekution ertrug Calas mit bewundernswerter Haltung.
Der Philosoph, Theatermann und Anwalt Voltaire griff diesen Fall auf und setzte die Kassation des Urteils durch das königliche Obergericht in Paris durch. Europas Öffentlichkeit verfolgte mit Spannung diese Kampagne. Es war der erste Durchbruch einer kritischen Öffentlichkeit gegenüber mittelalterlicher Justiz. Voltaires Schrift „Über Fanatismus“ begründete die Aufklärung im Justizwesen. Von da an wurde (außer in Diktaturen) der Ausschluss von Öffentlichkeit, also Geheimprozesse, unmöglich. Es galt künftig Voltaires Satz: „Wenn 1.000 Zeugen etwas Unsinniges behaupten, gilt immer noch die Macht der Tatsache.“ Mit der Intervention Voltaires entstand exemplarisch der Typ des „Anwalts der Öffentlichkeit“ und der Begriff des „philosophe“ in Frankreich. Bis hin zur Affäre Dreifuss war kritische Öffentlichkeit eine Institution. Diese Richtung der Vernunft kommt nicht aus dem Verstand, sondern aus dem Herzen. Es gehört Großmut, Wagemut und Entschiedenheit zu diesem Typ des kritischen Geistes. „Denken ist eine Form des Verhaltens“.
Das ist im 21. Jahrhundert aktueller denn je.
True Crime, also die authentische Darstellung von Verbrechen und ihrer Verfolgung, gehört zu den attraktiven Stoffen der Massenmedien aber auch der Poetik. Das reicht von Kleists Boulevardzeitung von 1810 BERLINER ABENDBLÄTTER über Edgar Allen Poe bis zu Truman Capote und dem breiten Netz moderner Stoffe bis hin zu „Making a Murderer“ und „Drugs Inc.“.
In dem Gespräch – einem Beispiel für „Gründlichkeit“ – nimmt Ferdinand von Schirach die Reibungsfläche zwischen Klischee und authentischer Dichtung ins Visier. Poetik ist „die Kunst, Unterschiede zu machen“. Kein Zeitalter hatte einen solchen Bedarf und eine solche Fülle an Stoff für die Dichtkunst vor Augen wie unser 21. Jahrhundert.


► Das Böse und das Kriminelle

Mit seinem Bestseller VERBRECHEN hat der Anwalt Ferdinand von Schirach auf Anhieb seinem juristischen Rang einen hohen literarischen Rang hinzugefügt. Noch in diesem Jahr erhält er den renommierten Kleist-Preis (Kleist-Preisträger sind z.B. Bert Brecht und Robert Musil). Wir haben diesem Autor und Anwalt die Frage vorgelegt: Gibt es das Böse? Ein Jurist philosophiert nicht, antwortet von Schirach, sondern er urteilt. Es geht ihm um die genaue Unterscheidung von „BÖSE“ und „KRIMINELL“. Alle Dinge sind wie sie sind, sagt Aristoteles. Sie gehorchen nicht den Begriffen. Man kann klar definieren, so von Schirach, durch welche Taten einer sich außerhalb des Gesetzes und zuletzt außerhalb der Gesellschaft stellt. Ganz schwer zu begreifen und zu definieren ist dagegen jene negative Grundströmung des Unheimlichen, das wir das Böse nennen und das wie ein SCHATTEN DER NATUR auf uns Menschen liegt. Begegnung mit Ferdinand von Schirach.