Neu im Catch-up Service: Weihnachtsoper im Dickicht bitterer Realität

Kirill Serebrennikows „Hänsel und Gretel“ an der Staatsoper Stuttgart
Engelbert Humperdinck war einer der Assistenten Richard Wagners als dieser seinen Parsifal komponierte. Seine spätromantische Musik zu dem Märchen Hänsel und Gretel hat Generationen von Kinder als Weihnachtsoper bezaubert. Die Staatsoper Stuttgart beauftragte einen als radikal und modern bekannten Regisseur, den Russen Kirill Serebrennikow, diese Oper für den Winter 2017 zu inszenieren. Serebrennikow gehört zur Spitzenklasse der Regisseure der Welt. Dann entschloss sich eine verblendete Justiz in Russland Serebrennikow mit einer offensichtlich politisch motivierten Anklage zu bedrohen und mit Hausarrest in Moskau festzuhalten. Er hatte bereits für seine Operninszenierung in Afrika einen Film gedreht, da seine Absicht war, das Motiv des Hungers und der Not im Grimm’schen Märchen aus den wirklichen Verhältnissen des afrikanischen Kontinents und nicht aus der Traumwelt eines mittelalterlichen deutschen Waldes zu entwickeln.
Die Staatsoper Stuttgart hat aufgrund dieses Filmes und der Skizzen des Regisseurs – auch aus Protest gegen die Willkür der Anklage in Russland – in Abwesenheit des Regisseurs eine Art Umriss seiner Inszenierung ins Leben gerufen. Die scharfe Reibung zwischen den Originalaufnahmen in Afrika aus der Jetztzeit und der spätromantischen Struktur von Engelbert Humperdincks Musik tritt auf diese Weise besonders stark hervor und fügt sich ein in das Verfahren der Stuttgarter Staatsoper in der Ära des Intendanten Jossi Wieler und seines Gefährten Sergio Morabito, die strukturellen Elemente von Musik und Handlung mit Gegensätzen und Dissonanzen unserer Wirklichkeit zu konfrontieren und dadurch Innovation in der Oper freizusetzen.
Eine ungewöhnliche und fesselnde, neuartige Weihnachtsoper, aus Not geboren. „Wer an die Märchen nicht glaubt, war nie in Not“.
Der Intendant der Staatsoper, Jossi Wieler, berichtet.
► Weihnachtsoper im Dickicht bitterer Realität (10 vor 11, Sendung vom 18.12.2017)


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► Castorfs Faust 2017
Frank Castorf inszenierte erst die Faust-Oper von Charles Gounod an der Staatsoper Stuttgart und im Anschluss daran Goethes Faust in einer frischen und modernen Sprechtheaterversion an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin. Man wundert sich nicht, dass die Hauptdarstellerin, die Gretchen und Helena spielte, Valery Tscheplanowa, zur Schauspielerin des Jahres 2017 und die Volksbühne zum „Theater des Jahres“ gewählt wurden.
In einer grandiosen Szene zwischen Faust (Martin Wuttke) und dem Weltgeist (Sophie Rois) und – in der gleichen Besetzung – in der berühmten Nachtszene zwischen Faust und seinem Famulus Wagner, wird Goethe erstmals in eine Sprechweise des 21. Jahrhunderts katapultiert. Der Klassiker Goethe zeigt sich als ein Mammut des Sprechtheaters. Die Grenzen zwischen Komödie, Tragödie, großer Oper und Dokument werden niedergerissen. Das ist große Kunst und zugleich pure Gegenwart.
Die ausgewählten Szenen aus dem auf sieben Stunden (bis spät in die Nacht) angelegten Riesentheaterstück werden ergänzt durch Szenen aus dem Stummfilm-Faust von G. W. Murnau von 1926.


► Pfeile, die ins Auge treffen
Wagners frühe Große Oper TANNHÄUSER enthält bereits alle Elemente, die ihn in seinen späteren Werken beschäftigten: seelischen Zwiespalt, ketzerische Abgründe, Buddhismus, Fluch und Erlösung. Trotzdem war Richard Wagner mit seinem Werk, das er mehrfach umarbeitete, nie zufrieden. Unmittelbar vor seinem Tode äußerte er: „Ich schulde der Welt noch einen TANNHÄUSER“. Gerade eine solche Baustelle, ein Rohbau, enthält für uns im 21. Jahrhundert offenes Material, in dem sich spannende Fundstücke finden.
Der Regisseur Romeo Castellucci hat an der Bayerischen Staatsoper dem TANNHÄUSER eine überraschende neue Deutung gegeben. In seiner Inszenierung sind Raum und Zeit ebenso wichtig wie die handelnden Personen. Es geht ihm um die Anfänge der Menschheit. Eine Welt 40.000 Jahre vor Christus, mit der „Venus von Willendorf“, trifft auf eine mittelalterliche Adelsgesellschaft, die ihre Brutalität im Gewande der Kunst vorführt. „Worte sind wie Waffen.“ Die Minnesänger und Ritter sind in dieser Inszenierung zugleich Künstler, Kopfjäger und Bluttäter. Tannhäuser wird mit dem Blut eines erlegten Hirschen für die Aufnahme in die Gruppe getauft. Mit gleicher Gewalt wird er dann beim ersten freien Wort aus dem Kreis der Zivilisierten vertrieben.
„Erst als Sternenstaub finden die Liebenden, Tannhäuser und Elisabeth, zueinander.“ Eine zentrale Rolle spielen in der Oper die Pfeile, von jungfräulichen Amazonen geschossen. Die Pfeile treffen Auge und Ohr zielgenau. Aber – wie in der Paradoxie des antiken Philosophen Xenon – bleiben sie auch zwischen Schützinnen und Ziel in der Luft bewegungslos stehen. „Ein Weg, der seine Richtung ganz verloren hat.“
Anja Harteros und Klaus Florian Vogt als Elisabeth und Tannhäuser in stimmlicher Hochform. Eine Glanzleistung der Ära Bachler.


► Putins Blick auf die Welt
Dr. Fiona Hill ist eine bedeutende Analystin aus dem Umkreis des Weißen Hauses und arbeitet derzeit für die Brookings-Institution, eine private Stiftung für politische Forschung. Sie ist dort für Europa und Russland zuständig. Aufsehen erregte ihre außerordentlich kenntnisreiche Putin-Biografie, die auf Quellen beruht, die nicht jeder hat.
Der Vater Putins war im 2. Weltkrieg an der Leningrad-Front im Hinterland der Deutschen Kommandant eines russischen Sprengtrupps. Er wurde verraten und schwer verwundet. Mit unbändiger Willenskraft gelangte er durch die Front zurück. Von der Zähigkeit dieses väterlichen Überlebenskampfes ist, so Fiona Hill, der Charakter des russischen Staatschefs bis heute bestimmt. Das Auseinanderfallen der Sowjetunion in Teilrepubliken, das Putin als Geheimdienstoffizier in Dresden erlebte, hat eine weitere Versteifung seiner Haltung hinzugefügt. Ähnlich wie bei Reichswehroffizieren und Freikorpskämpfern nach 1918 in Deutschland.
Alles Politische und alles Militärische in der Welt, so heißt es im Buch „Vom Kriege“ von Clausewitz, hat mit dem „fog of war“, dem „Nebel des Kriegs“ zu rechnen. Navigation in diesem schwierigen Nebelgelände, so Fiona Hill, scheint zu den Spezialfähigkeiten Putins zu zählen.


► Russland und die Deutschen
Die Geschichte Russlands und Deutschlands in den vergangenen 300 Jahren kennt Zeiten großer Faszination aber auch Zeiten erbitterter Feindschaft. Die Zarin Katarina die Große war eine deutsche Prinzessin aus dem Hause Anhalt-Zerbst. Die Zarin holte die besten Gelehrten Deutschlands und der Schweiz an ihre Petersburger Akademie. Ihr Sohn Alexander war es dann, in dessen Dienst sich die Elite des preußischen Militärs nach der Niederlage Preußens begab und der Europa von Napoleon befreite.
Wenige Beziehungen zwischen Nationen waren so wechselhaft wie die zwischen Russland und Deutschland. Ende des 19. Jahrhunderts ist die Faszination, die von der russischen Dichtung, z.B. von Dostojewski, ausging, unbeschreiblich. Parallel zu diesem Auf und Ab der wechselseitigen Beziehungen kann man sehen, wie Alexander von Humboldt den Ural und das Innere Russlands erkundet und den Reichtum an Smaragden und Diamanten als Erster entdeckt. Neben den aggressiven Begegnungen wie sie im Zweiten Weltkrieg stattfanden gibt es eine faszinierende Hinwendung zum Geheimnis der russischen Weiten, geografisch, ökonomisch und spirituell, von deutscher Seite.
Katja Gloger, Publizistin beim STERN, beschreibt diese Suche nach dem „russischen Geheimnis“ in ihrem neuesten Buch.


► Meerjungfrauen
Mythen, Märchen und Romane handeln von rätselhaften Wasserwesen: den Sirenen, Meerjungfrauen und Wassermännern. Es sind Geschichten der Sehnsucht und einer unmöglichen Liebe. Sigmund Freud sagt: „Die Seele ist ein Unterwasserwesen“. Dies kann der Grund sein für die emotionale Stärke dieser Überlieferung.
Der Mittelalter-Philologe Prof. Dr. Andreas Kraß, Universität Frankfurt a.M., dokumentiert in seinem Buch „Meerjungfrauen“ die Überlieferung.