Heute Abend im TV: Mitten im Strom (09.05.2017, 00:45 Uhr bei News & Stories auf SAT1)

Prof. Dr. Yuri Slezkine: Die frühen Jahre der Russischen Revolution
Die aktiven Revolutionäre, die den Oktober-Aufstand im Jahr 1917 anführten, passen in ein Zimmer und an einen übersehbaren Tisch in ihrem Hauptquartier in St. Petersburg, dem sogenannten Smolny. Die Umwälzung aber, für die sie arbeiten, bezieht sich auf ein riesiges Imperium mit Rändern in der Arktis, im Osten Sibiriens und in Mittelasien. Und außerdem auf die Internationale, die ganze Welt.
Yuri Slezkine ist der führende Experte für die frühen Jahre der Russischen Revolution. Diese Jahre unterscheiden sich massiv von den Linien in der späteren Geschichte der Sowjetunion.
Für die Genossen der Frühzeit war die Revolution ein stürmisches Meer. Es galt Dampfer, Flöße, Boote und Behelfsmittel rasch zu erfinden, um über Wasser zu bleiben. Erst später ging es um genauere Navigation und erst, nachdem die Mehrzahl der Revolutionäre umgebracht war und die Revolution sich einbetonierte, ging es um Lenkung der Gewässer, um Staudämme und zuletzt um die Errichtung eines „neuen Turms von Babel“.
Die von den Genossen erdachten und die tatsächlichen Entwicklungen fallen, so Yuri Slezkine, weit auseinander. Immer sind mehrere Strömungen zu beobachten. Die Revolutionierung, die Internationale und der Neue Mensch unterscheiden sich und verbinden sich zugleich mit der Bewegung der Mobilisierung des Landes, beginnend mit der Elektrifizierung. Diese Modernisierung, die 1917 anfängt, hat erst 70 Jahre später das weite Land durchdrungen, vor allem an den Rändern des Imperiums blüht sie bis zuletzt.
Eine besondere Beobachtung von Yuri Slezkine richtet sich auf den Exodus der politischen Intelligenz, insbesondere der jüdischen, aus den trägen und progrom-bestimmten Verhältnissen der russischen Provinz und der Kleinstädte. Dafür war bereits die jüdische Arbeiterpartei, Der Bund, ein Zeichen. Es gibt drei Formen dieses Exodus, sagt Slezkine: der eine führt in die U.S.A., der andere zur Gründung eines verspäteten ethnischen Nationalstaats in Israel. Der dritte führt in die Metropolen Moskau und St. Petersburg mit dem Ziel der Internationale und der Erschaffung des „Neuen Menschen“.
Begegnung mit Prof. Dr. Yuri Slezkine, Berkeley University. Aus dem Russischen gedolmetscht von Rosemarie Tietze, der Übersetzerin von Tolstois ANNA KARENINA.
 
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► Baustelle Revolution
Die Worte Revolution und Evolution bezeichnen die beiden Antipoden der Veränderung. Evolution ist das Gesetz des Lebendigen. Sie plant nicht. Evolution bastelt. Sie braucht gewaltige Mengen an Zeit. In dieser Weise schafft sie lang andauernde und riesenhafte Veränderungen. Der Revolution entspricht „umgekehrt“ der abrupte Bruch, die Kategorie der Plötzlichkeit. Revolutionär beginnt eine neue Zeit.
In unserem Jahr 2017 gibt es den 100. Jahrestag zum Februar und Oktober 1917, den beiden russischen Revolutionen. 50 Jahre sind es seit dem Sommer 1967, aus dem die Protestbewegungen in Berlin, Frankfurt, Paris und Berkeley hervorgingen. Die Wende von 1989 ereignet sich zeitgleich mit der grausamen Niederschlagung der Rebellion auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking und zugleich im Jubiläumsjahr von 200 Jahren der Großen Französischen Revolution. Der Arabische Frühling führte – erschreckend und enttäuschend – zum Elend von Aleppo. Alle Revolutionen hatten bisher einen unverwechselbaren Charakter. Ihre Erfahrungen sind unaufgearbeitet.
Christoph Menke, Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Johann-Wolfgang-Goethe Universität Frankfurt/Main, Repräsentant der 3. Generation der Frankfurter Kritischen Theorie und Fellow im Wissenschaftskolleg zu Berlin zum Thema „Baustelle Revolution“. Es geht um einen archäologischen Grabungsort (für Ruinen aber auch für Neubau). Bisher hat keine Revolution ihre Versprechungen gehalten und dennoch sind Revolutionen die einzige radikale (d.h. die Wurzeln ergreifende) „Kunst des Neuanfangs“. Wie lernt man das „Anfangen anzufangen und fortzusetzen“? Die historische Erfahrung sagt: „Die Revolution beginnt erst am Tag nach der Revolution“, wenn der Zorn durch Dauerhaftigkeit und Arbeit ersetzt werden muss.