Neu im Catch-up Service: Die Nase des Sokrates


Prof. Dr. Luca Giuliani: „Schönheit hebt ihr hässliches Haupt“
Es gibt zwei Skulpturen des Sokrates, die uns Heutigen sein Aussehen einprägen. Die Archäologen sprechen von dem Sokrates Typ A und Typ B. Der erste Typus wurde in Form einer Statue zu einem Zeitpunkt nach der Verurteilung zum Tode aufgestellt, als Sokrates in Athen etwa so beliebt war wie die Rote Armee Fraktion bei den Obrigkeiten der Bundesrepublik. Es ist eine Statue des Protestes. Auf sie beziehen sich zwei Stellen in den Dialogen des Plato und den Schriften des Xenophon, die das Aussehen des Sokrates beschreiben. Der Typ B, der später Allgemeingut wurde, ist von dem Typ A geprägt.
Entgegengesetzt zu dem in der Antike dominierenden Idol, dass die Schönheit und Wahrheit der Gedanken sich in Schönheit des Körpers und ebenmäßigen Gesichtszügen ausdrückt, sind diese posthumen Bilder des Sokrates den Satyrn nachempfunden: Knubbelnase, Wulstlippen, eigentlich ein hässliches Gnomengesicht.
Prof. Dr. Luca Giuliani, Archäologe und Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin deutet diese Züge als Abbild des Satyrs Marsyas. Dieses Musikgenie trat in Wettbewerb mit dem grausamen Gott Apoll: wer ist der Beste? Schiedsrichter waren die ungerechten Musen, Handlangerinnen des Apoll. Durch Schiedsspruch besiegt wurde dem Marsyas am lebendigen Leib die Haut abgezogen.
Offenbar, sagt Luca Giuliani, haben die Anhänger des Sokrates provokativ dieses Abbild geschaffen. Als plastische Kritik an den 500 Richtern, deren Mehrheit ihren klugen Meister, den Herrscher der Dialoge, zu Tode brachte. Die Statue ist eine Regelverletzung aller klassischen Ideale aus Protest. Wir haben kein Bild davon, wie Sokrates wirklich aussah.  Wir wissen nur in welche Form die engsten Jünger den verehrten Meister kleideten.
Ein Stück lebendiger Archäologie. „Schönheit hebt ihr hässliches Haupt“ ist ein Zitat aus den LICHTENBERG FIGUREN des New Yorker Dichters Ben Lerner.
► Die Nase des Sokrates (10vor11, Sendung vom 06.03.2017)


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► Der Prozess des Sokrates
In Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern widmete Ferdinand von Schirach in Berlin dem Tod des griechischen Philosophen Sokrates einen starken musikalisch-poetischen Abend. Von dem Prozess des Sokrates berichten unabhängig voneinander seine Schüler Platon (in seiner „Apologie“) und Xenophon. Auffällig, sagt Ferdinand von Schirach, ist es, wie ungeschickt der Philosoph sich vor dem Gericht verteidigt. Er hätte sich auf eine zwei Jahre zuvor, bei Sturz der Aristokratie und dem Sieg der Demokraten, verkündete Amnestie berufen können oder auf die Meinungsfreiheit. Dann hätte er freigesprochen werden müssen. Stattdessen provoziert er das Gericht, das aus 500 Richtern besteht, einer Art Volksversammlung. Schon seit dem Theaterstück „Die Wolke“ von Aristophanes, in dem er als Spottfigur auftaucht, läuft ein „shitstorm“ gegen den Philosophen. Er hatte enge Verbindung zur aristokratischen Partei, die den Demokraten verhasst war. Nach athenischem Recht kann das Gericht entweder dem Antrag der Kläger (Todesstrafe) oder dem Gegenantrag des Angeklagten folgen, ein Drittes gibt es nicht. Sokrates hätte z.B. auf Verbannung plädieren und so die Todesstrafe vermeiden können. Er aber verlangte statt Strafe eine Belohnung.
In der Nacht nach dem Todesurteil sitzt der Philosoph im Kreise seiner Getreuen. Er opfert dem Arzt-Gott Asklepios einen Hahn und trinkt den Giftbecher bis zur Neige. Die Kunst hat diesen Augenblick viele Mal festgehalten. Eine stoische Haltung: Lieber stirbt er, als falsch zu leben. Die Haltung ist mit der Grundfrage nach dem Sinn des Lebens verknüpft und eine moderne Basis für den dichterischen Blick.


► Aristoteles, Steuermann des Denkens
Aristoteles, jünger als Plato, stellt dessen Ideenlehre vom Kopf auf die Füße. Seele und Sinn liegen nicht im Ideenhimmel, sondern inmitten aller Einzelheiten und Besonderheiten unserer Welt. Philosophie ist nicht allgemein, sondern konkret.
Das reiche Erbe, das in den Werken von Aristoteles niedergelegt ist (nur etwa die Hälfte seiner Texte blieb erhalten) erreichte Europa im Hochmittelalter, nicht direkt aus der Antike sondern über die arabischen Philosophen Spaniens. Ein erneuter Aristoteles-Schub fand in der Renaissance statt, als – nach Einnahme ihrer Stadt durch die Osmanen – wichtige Gelehrte aus Byzanz nach Italien flohen. Überraschend ist vor allem die Modernität im Denken des Aristoteles.
Der Philologe und Aristoteles-Forscher Prof. Dr. Hellmut Flashar berichtet über den zeitlosen Realisten.


► Das Land der 1.000 Inseln
Griechenland besteht in seiner Geschichte seit der Antike und in seiner Gegenwart nicht bloß aus der Hauptstadt Athen, dem Festland und dem Peleponnes, sondern vor allem aus seinen 1.000 Inseln: „Nichts ist so verschiedenartig wie die Einzelteile des griechischen Archipels“.
Die adriatischen Inseln im Westen gehörten früher zum Einflussbereich Venedigs. Sie haben eine andere Musik, andere Sitten, andere Bauweise und andere Gemeinwesen und Clans als die Inseln in Ägäis. Auch von diesen unterscheidet sich fast jede von den anderen. Geht man nicht von einem Einheitsurteil (meist einem Vorurteil) über Griechenland aus, sondern untersucht die einzelnen Regionen in Geschichte und Gegenwart, erhält man auch für die Lösung der Probleme des Landes einen besseren Blick. Dem Bürgermeister von Thessaloniki sind zum Beispiel Reformen gelungen. Die Riesenstadt Athen sucht Rat bei diesem Politiker für die eigenen Probleme. Athen selbst bildet als Megalopolis einen scharfen Gegensatz zu den agrarischen Regionen des Landes. In dieser Hinsicht erweist sich das Phänomen Griechenland als ein prismatisches Gebilde.
Joannis Zelepos, LMU München, berichtet über die Vielfalt Griechenlands.


► Auf den Spuren unserer Vorfahren
Dem Donau-Strom von der Mündung aufwärts zu den Quellen folgend findet sich vor 40.000 Jahren eine frühe Zivilisation von verblüffender Vielfalt. Diese Menschen sind unsere Vorfahren. Sie kämpften mit einer harten, noch von der Eiszeit geprägten Natur. Sie entwickelten Kunst und Musik. Neueste Ausgrabungen in Süddeutschland dokumentieren ihre Lebenspraxis.
Der Archäologe Prof. Dr. Nicholas Conard, der gemeinsam mit Jürgen Wertheimer das Buch „Die Venus aus dem Eis“ verfasste, berichtet von seinen Grabungen und Forschungen.


► Kaviar für die Nase
Die Pflanze, aus deren Harz der Weihrauch gewonnen wird, ist extrem anspruchsvoll. Sie gedeiht nur an wenigen Orten der Erde, z.B. im Südosten Arabiens, wo die Monsunwinde des Indischen Ozeans die Berge beregnen. Von diesem Ursprungsort des Weihrauchs führte die Weihrauchstraße durch Arabien zum Mittelmeer und bis Rom.
Weihrauch war kostbarer als Gold. Nero verbrannte zu Riechzwecken und zur Feierung seiner Person eine ganze Jahresproduktion. Es scheint für antike Herrscher besser gewesen zu sein, sich duftend zu machen durch Rauch als sich zu waschen. Weihrauch ist eine Sache für Herrscher.
Mit der Weihrauchstraße verbinden sich die Legenden vom Goldland Ophir und von der Königin von Saba, die von dort kam und König Salomo in Jerusalem besuchte. Heute begegnen sich im „Morgenland“ die Spuren der Antike mit höchst modernem Terror, der sie zerstört.
Der Archäologe und Historiker Joachim Willeitner berichtet über die märchenhafte Weihrauchstraße, die zeitweise eine nicht geringere Bedeutung hatte als die Seidenstraße.