Abschied von Helmut Schmidt

Helmut Schmidt
 
Alexander Kluge kl
Einer seiner Amtsvorgänger, der Freiherr von Stein, mehr als 100 Jahre älter, hätte Helmut Schmidt als einen FESTEN MANN bezeichnet, einen Charaktermenschen. Das wäre bei diesem Vorgänger im Regierungsamt die höchste Anerkennung gewesen. Mit Helmut Schmidt hat die Republik einen seltenen und großen Mann verloren.
Alexander Kluge


► Helmut Schmidt, damals Verteidigungsminister, in einer Szene des Films „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“. Mit Alfred Edel und Kurt Jürgens als Katastrophenschutzbeauftragte.
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► Helmut Schmidt und Hannelore Hoger auf dem SPD-Parteitag 1977 in Hamburg.
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► Der Stenograf des Parteitags kommentiert eine Rede von Helmut Schmidt.
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Szene während des Besuchs des Bundeskanzlers Schmidt bei Präsident Carter.

Entscheidungsreiche Nacht

Zu Ehren des deutschen Bundeskanzlers Schmidt war nach dem Dinner im Rosengarten des Weißen Hauses die Vorführung einer Operette von Sullivan vorbereitet. Die Gäste und ihre Frauen, der Präsident, einige Senatoren und Stiftungspräsidenten saßen auf den in die Gartenanlage gerückten Sesseln dem kleinen Orchester und den Sängern gegenüber. Das war örtlich eng. Die hochsommerliche Abenddämmerung versank in einer lang hin-gezogenen Abblende des Lichts. Viele Besucher der Veranstaltung wünschten sich eine klare Entscheidung zwischen dem Restlicht der Sonne und dem elektrischen Licht.
Außerhalb dieser winzigen Sphäre, in welcher der regierende Zirkel den Abend verbrachte, ereigneten sich zur gleichen Stunde dramatische Vorgänge.
In New York brach die Stromversorgung zusammen. In den Hochhäusern erloschen millionenfach die Lichter. Für Stunden blieben Menschen in den Fahrstühlen eingeschlos-sen. Der Gouverneur des Staates New York rief den Notstand aus. Einige Zeit war unklar, ob ein Attentat oder ein Versagen von Fernleitungen, zur Katastrophe aufgeschaukelt, die Ursache des Ausfalls war. Die Nachricht davon wurde durch Boten über die schmale Gras-narbe zwischen Orchester und erster Sitzreihe an den Assistenten rechts vom Präsidenten überbracht und dann von Mund zu Ohr an diesen übermittelt.
Schon wenig später, noch bevor die Sänger in das witzig gemeinte Potpourri des Finales einstimmten, trat unpassend eilig der Sicherheitsberater des Präsidenten in die Szene, kniete zu Jimmy Carters Füßen nieder und konferierte in dieser Haltung (Brzezinski ist ein hochgewachsener Mann) über einen neuen gefährlichen Tatbestand (die Umsitzenden erfuhren den Grund und den Inhalt des Gespräches erst später); in der See vor Nordkorea habe ein Schußwechsel mit einem US-Kriegsschiff stattgefunden; auch ein sowjetisches Schiff sei beteiligt gewesen. Die Frage war, ob dies eine Provokation darstellte, die eine militärische Antwort erforderte. Im Sinne einer möglichen Kriegsauslösung sei es ebenso gefährlich, auf Schüsse einer nicht vollständig identifizierten Seite zu antworten, so Brzezinski zum Präsidenten, wie Schwäche zu zeigen und gerade dadurch eine Eskalation zu bewirken. Es bleibe sich also, erwiderte der Präsident, fast gleich, was man mache, denn riskant sei es in jedem Fall. Das gebe es nicht, antwortete der Bundeskanzler vorlaut, der mitgehört hatte, nie sei das eine so gefährlich wie das andere, es gebe stets etwas Drittes. Die Antwort eile, warf der Sicherheitsberater ein, jedes zusätzliche Wort oder Argument verbrauche Zeit. Solle man lieber falsch entscheiden als Zeit vergeuden? fragte der Präsident unwillig.
Der Präsident, den die Musik nicht interessierte, tat vor den Gästen dennoch so, als höre er zu. Zu keiner der an ihn herangetragenen dringlichen Fragen konnte dieser Herrscher in der gegebenen Situation etwas beitragen. Jedenfalls enthielt die Operette von Sullivan aus dem Jahr 1929 keine Hinweise für die Beantwortung irgendeiner politischen Frage. Einen Augenblick prüfte Carter, ob er sich aus dem Sessel erheben und in den Räumen des Weißen Hauses seine Mitarbeiter einberufen solle. Das wäre als Unterbrechung des Programms ein dramatischer Schritt gewesen, bereits eine Vorentscheidung darüber, daß eine Reaktion des US-Präsidenten anstehe. Nun kam, von drei Militärs überbracht, noch die Nachricht, daß US-Angehörige im Iran zusätzlich zu den dort von den Behörden belagerten Insassen der Botschaft in Gewahrsam genommen worden seien. Auf der nahöstlichen Seite des Planeten war es zu diesem Zeitpunkt heller Tag. Ereignisse stürmten heran, während sich Amerika schlafen legte.
Gibt es irgend etwas, was Sie beunruhigt, Mister President? fragte Bundeskanzler Schmidt höflich. Nicht der Rede wert, antwortete der Präsident. Noch aber hing der Unruhestifter Brzezinski, ganz in seinem konspirativen Element, in Ohrnähe des Präsidenten und sprach auf ihn ein. Für die Gäste war die Situation unklar. In Sullivans Operette ging es um eine Millionärstochter, die sich nicht zu einer Scheidung von einem Jungen in Brooklyn durchringen konnte, der von einem Intriganten beschuldigt worden war, ihr UNTREU gewesen zu sein. Wie die Sängerin klagend vortrug, stand es nicht fest, ob er eine andere liebte oder nur sie – wie er wiederholt ihr versprochen hatte. Das blieb bis zum Ende der Aufführung das Problem.
(aus dem Buch: LE MOMENT FUGITIF, Stefan Moses und Alexander Kluge, Nimbus Verlag)
 
► In meinem Film VERMISCHTE NACHRICHTEN besucht Helmut Schmidt erstmals Erich Honecker in der Schorfheide. Szenen, aufgenommen von Volker Schlöndorf, geschnitten von Beate Mainka-Jellinghaus.
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Die Nordpolarstellung

Hinflug nach Kanada. Bundeskanzler Helmut Schmidt lehnte sich zum Fenster und deutete auf die Eislandschaft, die sich rechts bis zum Horizont erstreckte. Dazu gibt es neuerdings eine Planung, sagte er kurz angebunden. Wir sprachen noch eben über die Winter¬schlacht von Stalingrad. Deshalb komme ich darauf. Es existiert eine NATO-Planung, fuhr der Kanzler fort, die sich auf die Regionen des Nordpols, die Eislandschaft über dem Nordmeer bezieht. Wer diesen Bereich des Planeten militärisch in Besitz nehmen kann, faßt jeden Gegner, der sich in den mittleren Breiten bewegt, in die Flanke. Das sei der neueste Schlieffen, so die NATO-Planer.
Die NATO-Planer waren auf diese Konzeption gekommen aufgrund geheimdienstlicher Nachrichten von sowjetischer Seite. Das sei ein charakteristischer Treibsatz für Planungen, kommentierte der Kanzler: Wenn wir es nicht machen, werden es die anderen tun. Ist diese Sache nicht geheim, fragte ich. Insofern nicht, antwortete der Kanzler, als jeder intelligente Mensch, der einen Globus vor sich hat, diesen Gedanken fassen kann. Es ist keine patentierbare Idee. Aber doch geheim, wenn es darum gehe, ob die Idee zu einem Plan wird? Es ist ein verrücktes Vorhaben, sagte der Kanzler und wies durch das Fenster auf die wüste weiße Weite: In der Ferne ein dunstigblauer Horizont, in der Nähe waren unregelmäßige, felsige Strukturen zu sehen. Einen Vorteil, fuhr der Kanzler fort, sehen die Strategen darin, daß es sich um ein Gefechtsfeld handelt, in dem die Truppe keine Zivilisten vorfindet. In der Tiefe des Nordmeeres muß man Vorratslager anlegen, fügte er hinzu, unterseeisch, auch die Tarnung bereite in einem solchen Gelände Schwierigkeiten. Eher ein bewaffnetes Gefangenenlager für die eigene Truppe? Ja, eher ein Kessel, in dem man sich freiwillig einigelt.
Diese NATO-Planung wurde später aufgegeben. Wie aber die in der Evolution erworbenen Eigenschaften ohne äußere Anwendung lange Zeit liegenbleiben und sich zugleich durch Mutationen fortentwickeln, um dann als neue Anpassungen hervorzutreten, so führen Akten und gespeicherten Datenmassen in der Brüsseler Zentrale ein aktives, verborgenes Leben. Die Idee des Flankenvorstoßes aus der Region des Nordpolarmeers (wie von einem fremden Himmelskörper) führte politgenetisch zu Richard Perles Planung des SDI-Projekts, eines Angriffs auf jeden Punkt der Erde mit Hilfe lasergesteuerter Projektile aus dem Orbit.
Während des Gesprächs mit Helmut Schmidt hatte die Maschine die Westküste Grönlands erreicht, und nach beiden Seiten, Süden und Norden also, war dunkles Wasser zu sehen, von kleinen Eisblöcken wie von miniaturisierten Segelschiffen belebt. Eine Dunstwand im Westen, auf welche die Maschine zuflog. Nicht besonders eindrucksvoll, sagte der Kanzler. Ihm war das Bild, auch beengt durch den Fensterrahmen, nicht einheitlich genug, jedenfalls schien ihm dieser Teil der Erdoberfläche unbrauchbar, sowohl in militärischer als auch in seemännischer und in industrieller Hinsicht. Zu kalt, zu wässerig. Auch drängte es ihn zu den anderen Begleitern des Fluges, zu denen er sich jeweils auf eine halbe Stunde zu einem Gespräch setzte. Bis Ottawa wollte er mit allen gesprochen haben.
(aus dem Buch: LE MOMENT FUGITIF, Stefan Moses und Alexander Kluge, Nimbus Verlag)
 
► Fortsetzung des Honecker-Besuchs. SAURE VORMITTAGSSTUNDE. In der Nacht ist in Polen das Kriegsrecht ausgerufen worden.
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Anderer Zeitpunkt. Krise im Nahen Osten. Die rasche Auffassungsgabe des Kanzlers.

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Die Fahrer saßen in der Kantine, die an das Tarn-Wäldchen grenzte. Im Haupthaus, in der Nähe der Türen, saßen die Bewacher.
KANZLER: Ich war jetzt schon seit vier Jahren nicht mehr in dieser Runde, habe die Thematik gar nicht mehr drauf.
PERS. REFERENT: Ich habe Ihnen, Herr Bundeskanzler, etwas vorbereitet …
KANZLER:
(überfliegt 14 Seiten) Das ist zu lang. Ich muß in einer Viertelstunde sprechen. Die Seite lese ich in zwei bis zweieinhalb Minuten. Zwei Mal 14 macht 28 Minuten Mindestdauer. Ich kann also, mein Lieber, das gar nicht erst lesen, noch weniger verstehen.
PERS. REFERENT: Ich erzähle es Ihnen.
KANZLER: Warten Sie. Die Fusionsenergie kommt nicht vor 2010, eher später; die Fusionsenergie ist bis dahin noch nicht vorherrschend und schon überholt. Die Kohlevorräte sind auf lange Sicht ausreichend, setzen aber günstige Abbaugelegenheiten voraus; sie sind nicht kosten¬deckend, bleiben die mineralischen Rohstoffe … Wenn jetzt aber, in¬folge der Krise, Landungstruppen an der Südost-Küste Arabiens, kombiniert mit einem Überraschungsangriff vom Berge Hermon herab über Damaskus und das alles eingeebnet …
PERS. REFERENT: Ist nicht mehr der Stand der Sache …
KANZLER: Ich bin zu lange raus.
PERS. REFERENT: War schon immer etwas anderes …
KANZLER: Ist ein sehr spezielles Gebiet…
Der Kanzler konnte sich auf eine kurzfristig angesetzte Rede am besten dadurch vorberei-ten, daß er selber redete. Wenn er eine fremde Rede las oder ihr zuhörte, konnte er keine Übersicht gewinnen und brachte Fakten durcheinander. Tatsachen eignete er sich an, in-dem er sie in seiner Reihenfolge aufführte, sie sozusagen wie ein Echolot in einer zunächst beliebigen oder erinnerten Reihenfolge seinen kundigen Zuhörern mitteilte, um an deren Mienenspiel abzulesen, wann er etwas traf und wann nicht. Diese Lernlinie konnte er noch in der Zeit des Vortrags vorsichtig nachbessern, in der Hoffnung, daß sein Erinne-rungsvermögen ihn nicht im Stich ließ.
KANZLER: Die Sonnenenergie, großtechnisch, in großem Rahmen … kommt, wenn überhaupt, noch später. Und sie würde uns auf Energie-Importe aus Ländern mit hoher Sonneneinstrahlung (etwa der Sahara) verweisen. Das ist hinsichtlich des französisch besetzten Teils Afrikas nichts Schlimmes. Aber was sagen wir zu Libyen?
PERS. REFERENT: Die Sahara ist nicht teilweise französisch besetzt …
KANZLER: Richtig. Jetzt müßte investiert werden, mitten im Feindgebiet …
PERS. REFERENT: In unübersichtlichem Gelände, weniger: Feindgebiet …
KANZLER: Truppenlandung ist da viel weniger möglich als an der Südost-Küste Arabiens …
PERS. REFERENT: Ist nicht mehr die vorherrschende Auffassung …
KANZLER: Was nicht?
PERS. REFERENT: Daß der Stoß von Südosten kommt, während der zweite Arm der Klammer über Damaskus geführt wird, das in Syrien liegt.
KANZLER: Weiß ich selbstverständlich. Das geht da durch.
PERS. REFERENT: Es wird vom AA gebeten, auf das empfindliche Syrien Rücksicht zu nehmen. Die Frage mineralischer Rohstoffe scheint übrigens entspannt.
KANZLER: Was reden Sie immer von mineralischen Rohstoffen, sagen Sie Erdöl.
PERS. REFERENT: Erdöl! Durch affenartiges Vorantreiben der Prospektierung sind so viele nichtarabische Ölreserven gefunden worden, daß sich die Frage erübrigt …
KANZLER: Seit wann?
PERS. REFERENT: Wahrscheinlich seit zwei Jahren …
KANZLER: Und wieso erfahre ich das erst jetzt?
PERS. REFERENT: Sie hatten keine Zeit, es zu lesen.
KANZLER: Sie sind gut. Das kann der Auslöser sein für einen dritten Weltkrieg.
PERS. REFERENT: Tatsächlich kam das Problem in den Tagen, nach denen die Mitteilung erfolgte, nicht vor, weil andere Fragen auf dem Tablett standen …
KANZLER: Drücken Sie sich gewählter aus.
PERS. REFERENT: Es sind Korrespondenten von NZZ, Le Monde, New York Times, Manchester Guardian, Die Zeit da.
KANZLER: Energie-Import, der uns von Libyen erneut abhängig macht, kommt gar nicht in Frage …
PERS. REFERENT: Nun sind da noch andere Länder mit hoher Sonneneinstrahlung und Wüste da.
KANZLER: Das sollen immer mehr werden. Aus tragischen Gründen …
PERS. REFERENT: Die Großsache ist die mit der Fusionsenergie. Sie hat den Nachteil, daß sie keiner versteht.
KANZLER: Den Vorteil …
PERS. REFERENT: Sie müssen jetzt raus.
KANZLER: Na ja, im großen und ganzen bin ich gewappnet.
PERS. REFERENT: Hier, nehmen Sie die Mappe.
KANZLER: Einen Augenblick …
PERS. REFERENT: Nehmen Sie, bitte.
KANZLER: Ich fühle mich ganz nackt ohne die Mappe.
PERS. REFERENT: Sie müssen sich beeilen.
KANZLER: Noch austrinken …
PERS. REFERENT: Die können ohne Sie gar nicht anfangen.
KANZLER: (nippt an der Tasse Tee) Und Sie sind sicher, daß die Sache über Damaskus nicht geht?
PERS. REFERENT: Vor vier Jahren wäre sie noch gegangen.
KANZLER: Für mich wie gestern.
PERS. REFERENT: Die Zeit vergeht in dieser Rasanz.
KANZLER: Ja. Nicht einmal für den Schluck Tee reicht es richtig.
PERS. REFERENT: Weil er auf dem Wärmer stand.
KANZLER: Sie hätten ihn runternehmen können.
PERS. REFERENT: Wir haben sechs Minuten Verspätung.
KANZLER: Dafür bin ich mal ausnahmsweise gut vorbereitet und kann mich während der Rede erholen.
PERS. REFERENT: Ich wünsche alles Gute, Herr Bundeskanzler.
KANZLER: Bis nachher!
 
► Helmut Schmidt in Güstrow. Besuch auf dem Weihnachtsmarkt und seine Abreise aus dem Osten.
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Ein Abschied vom Raucher
Helmut Schmidt
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(Triptichon von Helmut Schmidt: 3 Fotografien von Stefan Moses aus dem Buch LE MOMENT FUGITIF, Nimbus Verlag)