25 Jahre Wiedervereinigung

25 Jahre Wiedervereinigung

Filme und Geschichten von Alexander Kluge

Alexander Kluge kl25 Jahre (fast eine Generation) haben wir Erfahrungen gemacht als wiedervereinigte Bundesrepublik Deutschland. Sieht man heute auf Zäune an der ungarischen Grenze, auf die Flüchtlingsströme, verfremdet sich das Jahr 1990 wie in einem Lehrstück von Bert Brecht. Die Ereignisse der Wende sind immer noch nicht zu Ende erzählt.
Alexander Kluge


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Caroline Louise Glaube, geborene Granier. Die Großmutter meiner Großmutter väterlicherseits. Bild von 1795. Die junge Frau ist vor der Schreckensherrschaft im Jahre 1793 in den Südharz geflohen. Die Augenpartie entspricht der ihrer Enkelin Hedwig Kluge. Außerdem der meiner Schwester.


„Denk‘ ich an Ungarn in der Nacht“
Zum 3. Oktober 2015
Ich stelle mir vor, dass die Flüchtlingskolonnen an Ungarns Grenze, nicht nur tags, wenn die TV-Kameras sie aufnehmen, sondern auch nachts ihren Weg suchen. Dann sehe ich im ungenauen Licht an den selben Stellen der Grenze die Ungarn selbst, die 1956 nach Niederschlagung des Aufstandes in den Westen flüchteten. Hochbegabte gelangten bis in die USA. Zugleich drängen sich vor das innere Auge unsere eigenen Leute im April 1945: sie fliehen aus dem Osten. Einige Gemeinden in Schleswig-Holstein beschweren sich über den Zustrom. Sie melden an die deutsche Restregierung: unsere Kapazitätsgrenze ist überschritten (seit auch noch Flüchtlinge aus dem geräumten Baltikum über Dänemark von Norden ins Land drängen). Mir kommt meine Vorfahrin in den Sinn, eine Hugenottin, die mit Familie und anderen Religionsflüchtlingen aus Frankreich kam. Die Hugenotten haben den Gebieten unseres am 3. Oktober wiedervereinigten Landes, 300 Jahre früher, Glück gebracht. Immanuel Kant leitet in seinen schriftlich niedergelegten Nachtgedanken die menschliche Zivilisation vom Gastrecht ab. „Dass man einen Anderen am eigenen Ort annimmt, wenn es ohne absoluten Schaden für den Wirt möglich ist.“ Auf den Äckern der Aufklärung wächst Generosität. Auf dem Gelände des wiedervereinigten Mitteldeutschland war sie im 18. Jahrhundert heimisch. Nur Aufklärung rechtfertigt den „Anschluss“.


► Abriss eines Lenindenkmals
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„Die protestierende Hand“
Ein Genosse berichtet:
Das Denkmal, das eine Arbeitergruppe darstellt und in dieser Woche verhüllt wurde, bevor es abtransportiert wird in eine Braunkohlegrube, wo sich der Park entsorgter Gedächtnis-Skulpturen sammelt, war ursprünglich für den Export nach Rußland bestimmt. Die Hand des Links-Außen erhoben, war vom Künstler als Gruß gedacht. Wie sie jetzt, wie ein eigensinniger Finger aus der Verhüllung emporweist, hat sie eher den Ausdruck „Protest“. „Wir bleiben hier!“
Eine Gruppe von Kollegen plant, das herrenlose Objekt nachts zu entführen, in die Lutherstadt Eisleben zu schaffen und dort direkt gegenüber dem Rivalen Luther aufzustellen. Noch verfügen meine Getreuen und ich über eine Fahrbereitschaft, deren Existenz von der Treuhand übersehen worden ist.

Kampfgruppen-Denkmal, Volkspark Prenzlauer Berg, Ostberlin.  Triptychon von Stefan Moses aus dem Band: Le Moment fugitif, Nimbus Verlag, S. 13-15

Kampfgruppen-Denkmal, Volkspark Prenzlauer Berg, Ostberlin.
Triptychon von Stefan Moses aus dem Band: Le Moment fugitif, Nimbus Verlag, S. 13-15


Es geht nichts über Reparaturerfahrung
Der Reparaturfähigkeit, wie sie für unsere Republik charakteristisch war, lag Konsensfähigkeit und Kooperationserfahrung zugrunde, die von oben nicht bestellt und nicht gebremst werden konnte. Was sich dann nicht reparieren ließ, war die Demokratische Republik selbst. Am Ende, nach Neuformierung unseres Volks, hat uns der Westen übernommen. Alles an sich genommen, ohne Reparaturchance. Keine korrekte Einschätzung unserer kollegialen, improvisatorischen Fähigkeiten, aus denen doch der Wert der Republik und ihrer Betriebe in Wahrheit bestand. Wir wurden als Kostgänger, als überflüssig, abgeschrieben, in die Warteschleife versetzt, in die Freizeit entlassen.
Tatsächlich wird Reparaturenergie auf dem Weltmarkt nicht gehandelt. Im Gegenteil: Was beschädigt ist, was ein gewisses Alter erreicht, wird neubeschafft. Zur Freude der Konjunktur. Kostbar ist die Lücke, der Bedarf, der Sog nach neuen Lieferungen, nicht die Instandsetzung.
So kann man uns Experten nicht abfertigen, soviel will ich sagen. Noch immer repariere ich die Zäune, die unser stillgelegtes Betriebsgelände, das ein Investor erworben, aber nicht neu bebaut hat, umgeben, auch wenn solches Volkseigentum uns, dem Volk, nicht mehr gehört. Es stand auch vorher uns, dem Volk, nur dem Namen nach zur Verfügung. Das läßt sich nicht nachregeln. 50 Jahre Einsatz für die Katz! Es trifft mich mit 67 in einem empfindlichen Alter. Statt Rente, Neubeginn. Das heißt nicht, daß ich und die Kollegen, mit denen ich Verbindung halte, sich geschlagen geben. Auch Hoffnungen lassen sich instand setzen. Es geht nichts über Reparaturerfahrung.
► Stahlbau im Palast der Republik
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► Verhüllung eines begehbaren Marx-Kopfes
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Der verhüllte Marx
Ein von der kommunistischen Partei Italiens – Sektion Venedig – an die DDR ausgeliehener Künstler schuf in der Hauptstadt der DDR eine ungewöhnliche Skulptur in weiß-rosa bemaltem Metall: der junge Marx im Alter von vielleicht 25 Jahren, ohne alle Kleidung. Er sah aus, wie ein Husarenoffizier Bonapartes, dem russische Partisanen 1812 die Uniform ausgezogen hatten. Nackt und rosig stand er im Schnee in einem der Höfe der Akademie der Künste.
Dennoch schämten sich die Funktionäre in der Kulturabteilung des Zentralkomitees der Skulptur. Und sobald der italienische Meister in seine Heimat zurückgereist war, ließen sie die Stellage verhüllen. So stand sie noch, als die Abwickler der Treuhand Ende 1990 über den Verbleib zu entscheiden hatten. Sie bewerteten – auch in Unkenntnis, um welches Abbild es sich handelte – nur den Metallwert. Das Artefakt wurde eingeschmolzen.
Ein Vierteljahrhundert Lebenszeit, stets verhüllt und dann verwandelt in einen Klumpen Metall. Der Körper, den der italienische Meister geschaffen hatte, war von eleganter Schönheit. Die Sympathien einer ganzen Generation hätte man für den Sozialismus gewinnen können, wäre Marx im rechten Augenblick so unverhüllt und öffentlich gezeigt worden.

Verhüllter MArx

Ost-Berlin, Januar 1991.
Triptychon von Stefan Moses aus dem Band: Le Moment fugitif, Nimbus Verlag, S. 21-23


► Der letzte Grammatiker der DDR
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Kaufhaus Magnet, Dresden Freital, Sommer 1990.  Triptychon von Stefan Moses aus dem Band Le Moment fugitif, Nimbus Verlag S. 37, 38)

Kaufhaus Magnet, Dresden Freital, Sommer 1990.
Triptychon von Stefan Moses aus dem Band Le Moment fugitif, Nimbus Verlag S. 38)


Ein Laden namens „Magnet“
Aus der Arbeit meines Kollektivs stammt das Markenzeichen „Magnet-Läden“. Eine Metapher, die auf den Attraktor anspielt, der die Eisenmassen anzieht. Entsprechend soll das Eisenwarengeschäft, die Nutzermassen der Demokratischen Republik locken. Nach der Wende wurde der Laden geschlossen. Die Räume, die neu ausstaffiert werden sollen, sind als Bleibe einer westdeutschen Handelskette geplant, die über dem Ladeneingang ihr geistloses Westemblem aufziehen wird.
Uns DDR-Designer braucht man nicht mehr. Man versteht uns Designer als Halbkünstler. Nach Karl Marx kann das nicht zutreffen. Es kommt letztendlich darauf an, ob sich einer Mühe gibt. Arbeit mal Bemühte Zeit gleich Leistung. Vom Leistungsstandpunkt finde ich die Fertigung einer Schiffsschraube oder die Herstellung eines Kolossalgemäldes über den Bauernkrieg für ein Museum nicht höherrangig als eine Produktentwicklung, eine design-gerechte Verkaufsidee oder der Erfindung eines Handelsnamens.
 
► Straßenbahn im Oktober 1990 in Halberstadt
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Flüchtiger Moment, nachts in der Parteizentrale
Hätte er sich analysiert, wäre ihm klargeworden, daß er ein Trotzkist ist, ein Spartakist der ersten Stunde, und er hätte daran erkannt, wie gefährdet er seiner Einstellung nach in der Spitze des Parteiapparats die ganze Zeit über gewesen war – er aber, naiv, hatte alle Abgründe im Sprung überwunden, weil er sich selbst nicht verstand, sondern sich einfach „treu“ verhielt. Seine beharrliche Haltung, sein Bekenntnis zur permanenten Revolution hätte er aber nicht als „treu“, sondern als wissenschaftlich und sozialistisch bezeichnet. Er war ein „Verfechter der Sache“.
Dieser seltene Mann, ein Nachtarbeiter, saß in seinem Büro im entvölkerten Hauptquartier der Partei zur gleichen Zeit, zu der auch Gregor Gysi im selben Gebäude in einem anderen Amtsraum hockte. Fritz Tacke, so hieß der vereinzelte treue Funktionär, unterrichtete Geschichte in der Parteihochschule. Den neuen Parteivorsitzenden, schrieb er, „sehe ich als Wiederkehr von Paul Levi, des klugen, direkten Nachfolgers der Rosa Luxemburg 1919“. Er warf mit Bleistift auf zwölf Seiten eine Skizze hin, in welcher der Absturz der Partei ab Februar 1919, nur einen Monat nach ihrer Umbenennung in KPD und der Ermordung ihrer beiden Führer, beschrieben war. Die Implosion der SED, jetzt im Dezember 1989 war damit in nichts zu vergleichen, nicht die Situation, nicht die Ursache. In beiden Fällen, setzte er seinen durchaus pathetischen Entwurf fort, ist NEUBEGINNEN notwendig. Weder Paul Levi noch Gregor Gysi sehen aus, schrieb er, wie Fabrikarbeiter. Sie sind aber auch keine Funktionäre, sondern Radikale, „in der Sache Verwurzelte“. Bis zum Morgen wollte Tacke einen glühenden PARALLELEN LEBENSLAUF von Levi und Gysi verfassen. Dann mußte man nur noch die Rotationsmaschinen im Haus anwerfen, eine neue Parteizeitung – er wollte sie gestaltet sehen wie die Rote Fahne, letzte Ausgabe von Januar 1919 – herausgeben. Die Auflage war durch Kolonnen, die Tacke vor seinem geistigen Auge zusammenrief, unter den Massen zu verbreiten. Eine WENDE IN DER WENDE, damit ein neuer Elan, noch vor den Weihnachtstagen, die Menschen in der Hauptstadt der DDR erfaßt. „Eine Idee wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift.“
► Was tut einer, der im Dezember 1989 Parteivorsitzender wird
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► Der Turm von Halberstadt
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Die Wiedervereinigten
Etwa sechs Wochen nach dem Fall der Mauer reiste Rosemarie Zülcke mit ihren drei Kindern und Gepäck in den Westen. Flughafen Tegel, dann Bahn. Zwei Tage vor Heiligabend stand sie in Mannheim vor der Wohnungstür ihres Mannes, der sich – ein Jungarzt – in den Westen abgesetzt hatte. Die Eheleute Zülcke hatten um die Zerrüttung ihrer Ehe gewusst.
Sogleich, nachdem sie in die Wohnung in Mannheim eingedrungen war, entsetztes Gesicht ihres Mannes. Sie sah, daß er nicht allein lebte. Na, so war sie nicht abzufeiern. Wie eine fremde Besatzungsmacht beschlagnahmte sie eines der Zimmer und einen Teil des Bades, belegte diese Räume mit Gepäck und den Kindern.
Die Praxis ihres Mannes lag auf demselben Stockwerk gegenüber. Die fremde Frau forderte sie auf, sich dorthin zu begeben. Sie tat so, als halte sie diese Person für eine Sprechstundenhilfe. Der Mann zunächst hilflos. Dann pampig. Er mußte lernen, daß Rosemarie im Streite wuchs. Vor den Kindern konnte er sie nicht aus der Wohnung weisen. Damit waren seine Einflußmöglichkeiten auf die Situation begrenzt.
Rosemarie erwarb ein Weihnachtsbäumchen im Zentrum der Stadt, kaufte mit dem BEGRÜSSUNGSGELD und dem UMGETAUSCHTEN eine Notration an Nahrungsmitteln. Sie schimpfte nicht, machte sich attraktiv, schuf Gemütlichkeit im Haus, ließ sich weder betatschen noch aufreizen, noch in ihrer Präsenz erschüttern. Die Kinder halfen. Wie sollte der Mann, konfrontiert mit den besten Augenblicken, seines früheren Lebens, mitten in den Weihnachtstagen, bei einem Trennungsentschluß bleiben, der zurücklag und sich auf eine ganz andere gesellschaftliche Lage bezog? Am Stephanstag musste die fremde Frau, die abgehalfterte Geliebte, die sich Hoffnungen gemacht, aber nicht damit gerechnet hatte, um ein Haar Bigamistin zu werden, die Praxis verlassen. Mit einem gewissen Lärm, noch nicht einverstanden, wechselte die Rivalin in ein Hotel. Später verließ sie die Stadt.
Rosemarie zeigte sich von ihrer bezauberndsten Seite. Nur keine Schuldgefühle verursachen! So weit kannte sie das Temperament ihres abtrünnigen Mannes, daß er einem neuen Abenteuer mit ihr, einer lustvollen Perspektive nicht widerstehen konnte. Noch vor Silvester lagen sie zusammen im Bett. Die Kinder besuchten ein Kino.
► Hätte die DDR an der Sex-Front noch siegen können?
strauss


Nackt, wie wir waren
Ein bis zuletzt aktiver Kader aus dem Ferntransportkombinat berichtet:
Wir waren am Tag vor der Bilanzaufstellung zum DM-Umtausch mit vier LKW und zwei Begleitfahrzeugen aufgebrochen. Unsere Kraftfahrzeug-Reparateure in einem der Begleitfahrzeuge haben die schweren, mit Barren gefüllten Laster auf allen Straßen der Ost-Ukraine und Nord-Ossetiens intakt gehalten. Auf unseren Karten war Ust’urt als Wüste eingezeichnet (am östlichen Ufer des Kaspischen Meeres, aber dieses Meer war von der »Straße« aus nirgends zu sehen), die Wüste erwies sich aber als Steppe.
Im Frühjahr gaben wir die Fahrzeuge auf. Die Iridium-Barren verscharrten wir. Nach einem Fußmarsch von 700 km und über zwei Landesgrenzen hinweg meldeten wir uns auf der Deutschen Botschaft in Teheran. Wir waren zwölf Patrioten.
Die DDR-Pässe und unsere Waffen, die unsere Identität hätten beweisen können, hatten wir auf dem Fluchtmarsch eines Nachts in einem Panikanfall vergraben. Hätten wir zurückeilen sollen zu diesem Versteck, nur um Beamten des Auswärtigen Amts zu beweisen, daß wir ungewollt »Mitbürger« seien? Als sie es satt hatten, uns in den verhältnismäßig engen Räumen in Teheran zu verköstigen, transportierten sie uns über Aden, Port Said nach Rostock. Wir waren gewohnt, als aktive Tschekisten fast jede gewünschte Identität anzunehmen. Sie, unsere Gegner, mußten uns glauben, »nackt«, wie wir waren.


Die Fotos und Texte finden Sie auch im aktuellen Buch
Le Moment fugitiflemomentfugitif300
„Le Moment fugitif“ ist ein großformatiger Band, der 33 unbekannte Texte von Alexander Kluge mit 85 Fotos von Stefan Moses kombiniert. Kluge erzählt darin von Menschen in politischen und privaten Umbruchsituationen, wo der Überblick schwindet und das große Improvisieren beginnt. Das Spektrum der Protagonisten reicht vom einfachen Bürger bis zu Politikern in den Zentren der Macht wie Helmut Schmidt, Konrad Adenauer oder Gregor Gysi.
Der Band enthält zudem zwei Beigaben von Friederike Mayröcker.
Verlag: NIMBUS
Erschienen: 4.12.2014
Gebundene Ausgabe, 128 Seiten
Sprache: Deutsch
ISBN-13: 978-3-03850-009-4
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